Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
die in beiden Büchern vorkommen; die haben wir stark vergrößert und dann im Computer übereinandergelegt. Sie sind nahezu identisch. Höchstwahrscheinlich hat dieser Canches in beide Bücher geschrieben.« Sie seufzte träumerisch und schaute dann zu den beiden Folianten hinüber. Danach blickte sie erneut Janie in die Augen und sagte: »Ich kann Ihnen versichern, es war ein faszinierender Moment, als ich das herausfand.«
»Das ist in der Tat spannend, Sie haben völlig recht«, stimmte Janie ihr zu. »Vielleicht hätte ich auch gejubelt ›unglaublich, umwerfend, nicht zu fassen‹.«
»Lauter angemessene Bezeichnungen! Aber das ist nicht alles, es kommt noch mehr. Diese beiden Bücher stammen aus verschiedenen Epochen. Wir wissen, daß Ihres um 1300 entstanden ist, doch für das andere haben wir kein genaues Datum herausgefunden. Es ist aber erheblich älter, vielleicht sogar Generationen. Wieviel genau, können wir einfach nicht sagen. Wir haben die ganze Sache mehrmals überprüft, aber nirgendwo im Originaltext steht eine Jahreszahl. Die Datierungsmethoden, über die wir verfügen, geben uns einen zeitlichen Rahmen vor – zugegebenermaßen einen ziemlich großen.«
»Wie kann es sich dann um die gleiche Handschrift handeln?«
»Alejandros Schrift in dem älteren Buch ist nicht der Originaltext. Sie wurde lange nach der ursprünglichen Herstellung des Buches hinzugefügt. Wir sind zu der Schlußfolgerung gelangt, daß Ihr Dr. Canches einer der Übersetzer der älteren Handschrift war.«
»Es gab mehr als einen Übersetzer?«
»Eindeutig. Wir haben Abrahams Manuskript von einem Analytiker mittelalterlicher Schriften untersuchen lassen, als wir es bekamen. Und es ging auch aus der in der Übersetzung benutzten Sprache hervor – Canches’ Französisch war höfisches Französisch, eine archaische Version dessen, was heute gesprochen wird – ungefähr so wie Altenglisch. Deswegen konnten Sie bei der Übersetzung Ihres Journals Hilfe finden. Er könnte es in einer akademischen Umgebung oder einem Adelshaus erlernt haben. Ab einer gewissen Seite tauchte eine andere Handschrift auf, und das Französisch verändert sich auch. Es wird zu Provençalisch, das eigentlich dem Spanischen näher ist als dem Französischen. Die Leute, die es benutzten, gehörten den unteren Klassen an, zumindest damals – über den heutigen Gebrauch weiß ich kaum etwas –, oder sie kamen aus kleineren Orten im Süden Frankreichs. Wir glauben, daß Canches der erste von mehreren war, die allesamt in das Buch geschrieben haben. Er hat anscheinend seinen Wert erkannt und einige Zeit darauf verwendet.«
»Ich weiß, daß er das Lernen liebte, einfach um seiner selbst willen – aber ich frage mich, was dieses Buch für ihn so wertvoll machte.«
»Das genau zu sagen ist nicht leicht. Aber wenn ich ein Jude in jener Zeit gewesen wäre, hätte ich alles zu schätzen gewußt, was mir den Weg ein wenig erleichterte. Und dieses Buch ist im wesentlichen ein sehr langer Brief mit Anweisungen des Autors, eines Mannes namens Abraham, an die Juden, die in Europa lebten.«
Myras Augen funkelten vor Erregung. »Im ersten Teil des Buches erteilt er ihnen allgemeine Instruktionen zur Lebensordnung; aber eigentlich handelt es sich um ein alchimistisches Lehrbuch. Es enthält alle möglichen Rezepturen dafür, wie man gewöhnliche Metalle in Gold verwandelt. Vermutlich wollte Abraham sicherstellen, daß sein Volk über finanzielle Mittel zum Überleben verfügte. Also wies er sie an, wie sie ihr eigenes Gold herstellen konnten. Es klingt märchenhaft.«
»Aber das ist doch kompletter Unsinn!«
»Unsinn für uns, aber in der damaligen Zeit gab es viele Menschen, die glühend an eine solche Möglichkeit glaubten. Eigentlich war es eine Besessenheit des Mittelalters und der Renaissance. Heutzutage versuchen wir krampfhaft, Freunde bei der Berufssuche golden anzupreisen. Damals ging es ebenfalls um ›Vergoldung‹. Es kann durchaus sein, daß Ihr Dr. Canches so etwas für möglich hielt.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Janie entschieden. »Alejandro war Wissenschaftler, und zwar ein integrer Mann.«
Myras Augen blitzten. »Ein mittelalterlicher Wissenschaftler. Vermutlich glaubte er, die Welt sei flach, wenn er überhaupt darüber nachgedacht hat. Und Babys entstünden, indem winzige Menschlein – sie nannten sie Homunculi – während des Geschlechtsverkehrs vom Vater in die Mutter gesät würden. Es wäre also nicht abwegig, wenn er sich
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