Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
Chauliac! Niemand ist an einer Paarung interessiert, am wenigsten die Gräfin selbst. Sie hat bereits eine gute Verbindung geschlossen, vielleicht die beste, die es für sie gab. Aber das bedeutet nicht unbedingt, daß das Arrangement sie völlig zufriedenstellt. Wenn ich mir Prinz Lionel anschaue, dann sehe ich einen Mann, der wenige Frauen anziehen würde, wenn er nicht von königlicher Geburt wäre. Er besitzt alle Merkmale der Plantagenets, doch bei ihm treten sie in ziemlich unansehnlicher Form zutage.«
»Die beiden haben eine ganze Anzahl Kinder, also muß es eine gewisse Zuneigung zwischen ihnen geben.«
»Zwischen Ehemännern und Ehefrauen muß es immer Interesse geben, wenn nicht füreinander, dann an einem gemeinsamen Ziel.
Aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß sie unter königlichen Personen häufig eine ziemlich farblose Form annimmt. Diese Dame gönnt sich nur ein wenig Abwechslung.«
»Aber Ihr … Ihr seid …«
»Ein Jude und deshalb sogar zu einem Flirt ungeeignet?«
»In der Tat!«
»Davon weiß sie nichts, solange Ihr es ihr nicht mitteilt. Und ich wage zu sagen, daß es für sie ebenso schädlich wäre wie für mich, wenn mein ›Mangel‹ ans Licht käme.« Er trank den Rest Wein aus seinem Becher und stand auf. »Und jetzt, mit Eurer Erlaubnis, mein Hüter, werde ich mich in meine Kammer zurückziehen und mit meiner Arbeit an der Übersetzung fortfahren. Der gute Flamel wirkt, als würde er jeden Augenblick vor Ungeduld platzen. Vermutlich liegt er im Augenblick auf den Knien und schüttet seinem Gott sein Herz aus in der Hoffnung, für würdig befunden zu werden. Wer weiß, wann diese Entscheidung getroffen wird? Es könnte sehr bald sein, denn er ist so fromm, wie ein Franzose nur sein kann. Ich würde ihn nicht warten lassen.«
»Wie Ihr meint, Arzt!«
Als Alejandro hinausspazierte, drehte er sich noch einmal um und äußerte mit einem bitteren Lächeln: »Sagt mir noch einmal, warum Ihr mich hier bei Euch festhaltet – ist es wegen meiner anregenden Gesellschaft?«
»Etwas in der Art.«
Alejandro seufzte. »Ja, ich glaube, das hattet Ihr erwähnt.« Aber es stimmte nicht mehr. Jetzt wurde er festgehalten, bis er die Geheimnisse der Reichtümer, die in Abrahams Handschrift verborgen waren, enthüllt hatte. Es wurde Zeit, daß er anfing, Fehler zu machen.
In dieser Nacht wurde ein weiteres Blatt übersetzt und der erste kleine Fehler eingefügt. Alejandr o übersetzte das Symbol für »Grün« mit »Rot«, doch alles andere war makellos. Er wird keinen Grund zu einem Verdacht haben, daß dies nicht stimmt, dachte er und lächelte bei sich. Während er die Spitze seines Federkiels abwischte, segelte ein kleines Wurfgeschoß durchs Fenster und landete mit einem leisen Plumps auf seinem Bett.
Der Empfänger eilte an das Gitter. Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten; aber dann sah er zwei Gestalten, und bald darauf wußte er, daß es diejenigen waren, die er zu sehen wünschte.
»Wartet, während ich Eure Worte lese«, rief er kühn hinunter.
Er trug den Schatz zur Kerze und wickelte ihn aus. Eine Seite des Pergaments war leer, wie er verlangt hatte, die andere mit Kates schöner Handschrift gefüllt.
Marcel hat uns willkommen geheißen, obwohl er nicht weiß, wer ich wirklich bin, und Karle hat mich weder an ihn noch an irgend jemand sonst verraten. Ich bin wohlauf, und wir befinden uns in Sicherheit vor den neugierigen Augen jener, die uns Fragen stellen könnten. Karle und Marcel verbringen ihre ganze Zeit damit, ihre Revolution zu planen, und mir ist es gelungen, ihnen hilfreiche Ratschläge zu erteilen. Was auch nötig war, denn sie hätten schwerwiegende strategische Fehler gemacht, wenn ich sie nicht auf ihre Torheiten hingewiesen hätte.
Unsere Reise nach Paris hat lange gedauert, wie Ihr zweifellos wißt. Wir wurden durch Pflichten aufgehalten, die laut Karle nicht warten konnten – und das entsprach der Wahrheit. Vielen Frauen wurde mitgeteilt, daß sie Witwen geworden waren, und viele Nachrichten wurden hinterlassen, viele Rufe zu den Waffen übermittelt. Ich habe viel Krankheit und Tod gesehen, Père, und an entsetzlichen Anblicken herrschte kein Mangel.
In einem Bauernhaus fanden wir einen Mann, der die Cholera hatte – ich tat für ihn, was ich konnte, indem ich Löwenzahn empfahl; die Frau war schwanger, und das Kind zehrte von ihrem Fleisch, während es dem Leben zustrebte. Aber in diesem Haus war noch etwas
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