Bereue - Psychothriller (German Edition)
willst!”, schrie Ben und rammte den Finger auf das rote Feld ‘Gespräch beenden’ auf dem Display. “Ich hasse dich!” Das iPhone flog in den Fußraum.
Er hatte keine Familie mehr, wenn er denn je eine gehabt hatte.
Sein Blick glitt über das Foto von Lucky. Er legte es ins Handschuhfach. Der Vergangenheit nach zu hängen half ihm nicht weiter. Auch nicht das Buch von seiner Mutter Wünsche ans Universum . Er hatte nur einen Wunsch, und den konnte ihm das Universum nicht erfüllen. Das Buch landete neben dem Foto.
Eine weitere Nacht im Wagen stand ihm bevor. Draußen riss der Wind am Laub der spärlichen Bäume, Regentropfen liefen über die Win dschutzscheibe.
Er schaltete das Radio an, um die Einsamkeit zu verdrängen. Beethovens Mondscheinsonate erklang. Den Sitz zurückgeklappt lehnte er sich zurück und schloss die Augen.
Schneewittchen. Gedankenverloren rieb er seine Arme. Das Jucken flammte zu einem schmerzhaften Brennen auf, dort wo ihre Fingernägel seine Haut zerkratzt hatten. Wie hatte er nur so brutal zu ihr sein können. Und er hatte es auch noch genossen, ihre Angst, ihren Schmerz. Und seine Macht. Sie hatte recht, er war ein Riesenarschloch.
Ohne Geld, ohne Job war er nichts. Ob er lebte oder nicht, int eressierte niemanden. Und der einzige Mensch, den er je geliebt hatte, hasste ihn.
“Annelie”, flüsterte er in die Dunkelheit. Wenn sie ihm nur glaubte, dass es ihm leidtat. Das damals und das heute. Dann könnte er leichter gehen. Dieses Leben hatte er vermasselt. Vielleicht würde er in seinem nächsten Leben eine neue Chance bekommen, um glücklich zu werden. Seine Mutter glaubte fest an die Wiedergeburt.
Die ersten Klänge des Allegretto der Mondscheinsonate erfüllten den Wagen und trugen ihn in die Vergangenheit zurück.
Es war kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag. Seit Wochen schwärmte sein Bruder für ein Mädchen in seiner Klasse. An einem Freitag Nachmittag brachte er sie mit nach Hause, um gemeinsam zu lernen.
Ben sah die beiden nebeneinander bäuchlings auf Richards Bett liegen, die Nasen in ihre Bücher gesteckt. Er blieb an der offenen Tür stehen. Sie war ihm schon öfter in der Schule aufgefallen. Dass sie in Richards Klasse war, hatte er nicht gewusst. Und auch nicht, dass ausgerechnet sie Richards Angebetete war.
Das Mädchen sah auf. Der Blick ihrer dunklen Augen traf ihn wie ein Blitzschlag. Ihr Lächeln löste etwas in ihm aus, das ihn in sein Zimmer flüchten ließ. Gegen die Innenseite der Tür gelehnt versuchte er zu verstehen, was mit seinem Körper los war. Natürlich kannte er sexuelles Verlangen. Er hatte schon einige Mädchen geküsst und gestreichelt. Doch diesmal beschränkte es sich nicht auf seinen Unterleib. Sein Herz hämmerte, die Finger, mit denen er sich über das Gesicht fuhr, waren feucht und zitterten. In seinem Bauch schien eine Horde Bienen zu summen.
Von dem Tag an suchte er sie mit Blicken in jeder Pause. Meistens stand sie mit anderen Mädchen zusammen und lachte ihr wunderschönes Lachen. Wenn sie an ihm vorbeiging, lächelte sie, sagte aber nie etwas. Warum auch.
“Wie läuft es eigentlich mit diesem Mädchen?”, fragte er Richard beim Abendessen so beiläufig wie möglich.
Zum Glück war Vater nicht da. Er würde alles analysieren. ‘Wer sind ihre Eltern? Was arbeitet ihr Vater? Wie viel verdient er?’
Richard warf seine Gabel auf den Teller und stützte sein Kinn in die Hand. “Annelie? Ich komm nicht an sie ran. Sie ist immer so nett und doch so weit weg.”
Ben nickte wie er hoffte mitfühlend und klopfte ihm auf die Schulter. “Hey, andere Mütter haben auch schöne Töchter.”
Richard stieß seine Hand weg. “Scheißspruch.”
Am folgenden Wochenende stand das Sommerfest der Schule an. Ben gab Richard Zeit bis zehn Uhr, um bei Annelie zu landen. Auf die Blödeleien seiner Mitschüler, mit denen er zusammenstand, achtete er nur mit halbem Ohr. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie Richard einen Cocktail nach dem anderen trank. Annelie stand bei ihren Freundinnen oder sie tanzte, bewegte sich Takt der Musik als wäre sie ein Teil davon. Jungs, die sie anredeten oder gar berührten, verscheuchte sie. Kurz nach zehn Uhr hing sein kleiner Bruder über der Kloschüssel und reiherte. Das mit dem Mut ansaufen hatte nicht funktioniert.
Schon eine Weile hatte er Annelie nicht mehr im Gedränge der ausgelassenen Schüler entdecken können. Hoffentlich war sie noch nicht gegangen.
So beiläufig wie möglich
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