Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers
nie. Die Bedingungen (Wetter, Schneeverhältnisse) und Umstände (Gesundheit) sind nicht vorausberechenbar. Trotzdem, ohne Plan geht es auch nicht. Weder der Nanga-Parbat-Gipfel noch der Nordpol können ohne dezidierte Logistik erreicht werden. Die Improvisation vor Ort aber bleibt ebenso wichtig. Die Fähigkeit, alle Eventualitäten theoretisch im Plan durchzuspielen und trotzdem für alles Unvorhersehbare offen zu bleiben, gehört zur Kunst, ein Spiel wie das meine auf die Spitze zu treiben. In diesem Zusammenhang ist der Alleingang leichter als eine Gruppenreise, weil viele Imponderabilien nur von mir allein abhängen.
Wenn ich als Einzelgänger einmal zu einer Entscheidung gekommen bin, kann ich zu ihr stehen oder sie rasch ändern, wenn andere Umstände es fordern. Sie hängt nur von mir ab. In der Gruppe gilt es, gemeinsam zu Entscheidungen zu finden. Flexibel bleiben und bei unvorhergesehenen Gegebenheiten gemeinsam reagieren bedeutet in der Gruppe Zeitverlust und oft auch EnergieeinbuÃe.
Trotzdem bin ich »Solo-Abenteurern« gegenüber, die fast nie in Gruppen agieren, skeptisch. Der Alleingang muss die Ausnahme bleiben. Die Regel ist die Aktion in der Gruppe.
Warum? Wenn weder Erfolg noch Leistung meine Rechtfertigung sind, sondern Erfahrung, habe ich in einer Gruppenreise mehr Möglichkeiten als der Alleingänger. Die Anstrengungen sind beim Alleingang vielleicht gröÃer. Selbsterkenntnis und Erfahrung nicht. Diese sind zusammen mit anderen intensiver. Wenn einer/eine allerdings nur und immer gewinnen will, wird er/sie den Alleingang vorziehen. Ein simpler Selbstbetrug.
Ich bin überzeugt davon, dass jeder von uns ein Einzelner und Einziger ist. Trotzdem leben wir in Gruppen zusammen und nebeneinander. Der Ausspruch »Two are a crowd« weist oft nur darauf hin, dass jemand mit anderen nicht umgehen kann oder dass er auf Zeugen lieber verzichtet. Zwei sind nicht zu viel. Auch beim Grenzgang nicht.
7.8.1978
Nach einem Fehlstart und einem Ausflug auf den Ganalo Peak (zur Festigung meiner Selbstsicherheit) steige ich mit dem ersten Morgengrauen in die Diamirwand ein und schaffe in 6 Stunden 1600 Höhenmeter. Oberhalb des groÃen Séracs, im rechten Wandteil, beziehe ich mein Biwakzelt, das ich unter eine leicht überhängende Eisstufe gestellt habe (6400 m).
Ich habe das Unvorhergesehene auf ein Minimum reduziert und bleibe doch bereit, mit dem Geheimnisvollen zu leben. Darin besteht die Kunst: im Lot zu sein. Bei diesem Alleingang kommt es viel mehr auf diese innere Balance an als auf Kletterkönnen. Ich weiÃ, was auf mich zukommt. Trotzdem ist alles offen.
Ausgeglichen bleiben ist nicht planbar. Ich bin es und weiÃ, dass Unsicherheiten im Tun ersticken. Also weiter! Einmal unterwegs, sind alle Probleme zu lösen. »Do it, try it, fix it«, sagen die Unternehmensberater von McKinsey dazu. Als Auftrag an sich selbst.
Obwohl wenige Minuten nach 5 Uhr früh ein Erdbeben den Nanga Parbat so stark erschüttert, dass alles lose Eis (Tausende von Tonnen) abbricht und mein geplanter Abstiegsweg abgeschnitten ist, gehe ich weiter. Es ist wie eine Flucht nach vorne. »Irgendwo-werde-ich-schon-hinunterkommen-Stimmung«. Eine starke Ãberzeugung jetzt, ganz hinaufzukommen.
Nachdem ich das Biwakzelt abgebaut und alle Ausrüstung (etwa 15 kg) im Rucksack verstaut habe, steige ich diagonal nach links, wo ich in Gipfelfalllinie ein zweites Mal biwakiere (7400 m).
Aufstieg bis zum Gipfel. Wegen schlechter Schneeverhältnisse bin ich sehr langsam. Wiederholt spreche ich mit mir selbst. (Der/die fehlende Partner/in wird in Grenzsituationen offensichtlich durch die Fähigkeit des Menschen substituiert, sich in zwei oder mehrere Persönlichkeiten zu spalten.)
Spät am Nachmittag erreiche ich den Gipfel. Starkes Erfolgsgefühl. Einerseits Genugtuung, es alleine geschafft zu haben, andererseits der Wunsch, diesen Erfolg zu teilen. Erfolg wird niemandem geschenkt â nie und nirgends â, geteilt verkleinert er sich nicht. Abstieg ins (stehen gelassene) Biwak auf 7400 Meter Meereshöhe.
10.8.1978
Schneesturm. Die Ausweglosigkeit ist total. Undurchdringbar. Ein Abstiegsweg wäre im dichten Nebel nicht zu finden. Der Hang (3000 Meter hoch) unter meinem Biwak ist jetzt extrem lawinengefährlich. Es gibt keine Rückendeckung. Proviant und Brennstoff reichen maximal für fünf Tage.
Erstmals spüre ich wegen der
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