Berger, Frederik - Die Geliebte des Papstes
Er flüsterte mit der Hebamme und ließ sich berichten, was geschehen war, wie lange Silvia schon in den Wehen lag. Nach einer Weile stand er auf, mit tiefen Sorgenfalten zwischen den Augen, und führte Alessandro aus dem Stall.
Die blendende Helligkeit des späten Augusttags zwang Alessandro, die Augen zu schließen.
»Es sieht nicht gut aus«, sagte der Chirurgus. »Sie quält sich schon zu lange. Aber das Kind scheint noch zu leben. Wahrscheinlich liegt es falsch – was immer … Ich muß sofort etwas unternehmen.«
Alessandro öffnete die Augen. Der Chirurgus war schon dabei, seine Instrumente auszupacken.
»Ihr müßt jetzt entscheiden, was zu tun ist«, fuhr der Mann fort. »Die Gebärende wünscht, daß wir das Kind lebend holen. Aber sie selbst wird dann sterben. Oder …«
»Oder?«
»Ich kann versuchen, die Mutter zu retten. Dann wird das Kind sterben. Womöglich die Mutter auch. Sie ist schon sehr schwach. Ihr müßt Euch entscheiden, sofort. Sonst sterben beide.«
Alessandro wandte sich ab und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Er fühlte sich gelähmt. Alles Leben entwich ihm. Er konnte nicht mehr denken. Gott zertrat Silvia, das Kind – und auch ihn.
»Sofort, Eminenz, sofort!«
»Rettet die Mutter, rettet sie, schnell!« schrie er. Er fiel auf die Knie, das Gesicht noch immer bedeckt, er beugte sich nach vorne, bis er den Boden berührte, und erstarrte in dieser hilflosen, demütigen, sich erniedrigenden Haltung. Eine schmerzhafte Leere breitete sich in ihm aus. Und in dieser Leere begegnete er Gott. Nein, diese Leere war Gott. Er glaubte, den Verstand zu verlieren. Das einzige, was er in diesem widersinnigen Augenblick fühlte, war seine Liebe: zu Silvia, zu dem Ungeborenen, zu seiner Tochter, ja auch zu Crispos Jungen. Und diese Liebe füllte die Leere aus wie ein Sonnenstrahl, der einen tiefen Brunnenschacht erhellte. So war die Liebe Gott. Ja, Gott ist Liebe ; und wer in der Liebe bleibt , der bleibt in Gott und Gott in ihm . Dies war die Botschaft, die er in diesem Augenblick erfuhr, eine frohe Botschaft, und er wußte: Diesem Gott würde er freudig und mit aller Kraft dienen.
Aber als antwortete ihm ein höhnischer Gott, hörte er einen Schrei, einen langgezogenen, nicht enden wollenden Schrei, der wie das Schwert des Erzengels ihm den Glauben an ein gutes Ende durchtrennte. Silvia starb und mit ihr das Kind. Er brauchte nicht mehr zu hoffen. Mit dem Tod hier im Stall starb auch die Hoffnung auf ein unverdientes, aber barmherzig gewährtes Glück. Was ihm blieb, war seine Tochter Costanza. Er hatte zu lange gezögert. Er war seiner Liebe zu Silvia nicht bedingungslos gefolgt und hatte sie einem anderen Mann in die Arme getrieben. Und nun, nachdem sie sich doch noch gefunden hatten, hatte er Silvia allein gelassen. Was mußte ihn der krepierende Borgia kümmern? Warum mußte er della Rovere und den Kardinälen seine taktischen Überlegungen darlegen?
Er war zu spät gekommen.
Ja, Gott war die Liebe. Aber Gott war nicht der gerechte, der hilfreiche, der barmherzige Gottvater. Diesen Gott gab es nicht. Und wenn es ihn je gegeben hätte, dann wäre er mit Silvias Todesschrei gestorben.
Alessandro erhob sich. Liebe ohne Wahrheit blieb blind. Er mußte der Wahrheit ins Gesicht schauen. Er hatte seine geliebte Silvia, er hatte sein Kind verloren. Der Tod, der zufällige, der ungerechte Tod war die entscheidende Seite der Wahrheit. Sein Vater mußte sterben, sein Bruder ebenfalls. Ihn selbst aber verschonte der Tod – um ihn zu strafen, um ihn lebenslang seinem Glück nachtrauern zu lassen.
Als er in das Dunkel des Stalls trat, hörte er plötzlich ein schwaches Stimmchen. Und aus dem Dunkel schälten sich langsam Silvias Augen: Sie lächelten ihn an.
E PILOG
Zwei Kerzen werfen ihr flackerndes Licht auf das Papier, als huschten die Seelen der Verstorbenen vor meine Feder, um von ihr erlöst zu werden. Das sündige, aber lebendige Rom meiner jungen Jahre ist tot. Es hat sich verwandelt in eine Stadt, die von einem starren, strenggläubigen Fanatiker beherrscht wird, der im Namen des dreieinigen Gottes die Wahrheit unterdrückt und Scheiterhaufen errichtet, auf denen er Bücher, Häretiker und Juden verbrennt.
Ich bin eine alte Frau, die die meisten ihrer Kinder und Enkel überlebt hat und sich nun gedrängt fühlt, eine Reise in ihre Vergangenheit anzutreten, bevor sie sich auf ihre letzte Reise begeben muß. Die Wahrheit wird euch frei machen , sagte einst der Gekreuzigte zu seinen
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