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Bergfriedhof

Bergfriedhof

Titel: Bergfriedhof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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am Tisch. Der Ungar war ein fast zwergenhaft kleiner, kräftiger Mann mit rundem Kopf und lebhaft zwinkernden Augen, fuchtelte dauernd mit seinen fleischigen Händen herum und wirkte überhaupt ein wenig überdreht. Dass es zwischen ihm und der bemitleidenswerten Gestalt an seiner Seite eine direkte verwandtschaftliche Bindung geben sollte, schien undenkbar. Franz oder Ferenc, wie ihn der Herr Papa nannte, war spindeldürr, fast unterernährt. Er hatte nicht nur weißes Haupthaar, sondern auch seine Augenbrauen schimmerten schlohweiß. Dazu Kaninchenaugen hinter der Schutzbrille und helle, zarte, kostbar wirkende Haut: ein Albino.
    Wir bestellten. Der Vater einen süßen Roten, der Sohn ein Spezi, Kurt einen weiteren Orangensaft und wir anderen Bier. Maria kam und stellte die vollen Flaschen und Gläser neben die leeren auf den Tisch. Auf den Gedanken abzuräumen kommt sie übrigens nie. Die Abende im Englischen Jäger finden ihren natürlichen Abschluss, sobald ein Tisch bis zum letzten Quadratzentimeter mit leer getrunkenen Flaschen bedeckt ist. Am nächsten Morgen sind die Flaschen verschwunden, und das Spielchen kann von vorne beginnen.
    Wir prosteten uns zu.
    Tischfußball-Kurt übernahm die Gesprächsführung. Ohne rot zu werden, bezeichnete er mich als Heidelbergs Topermittler, erste Adresse für die Schönen und Reichen der Stadt, unabhängig und überparteilich. Ehrfürchtiges Staunen. Händeschütteln. Zum Glück fragten sie mich nicht nach Autogrammkarten. Und dieser Superschnüffler, fuhr Kurt fort, sei mitten drin in einer Ermittlung, brandheiße Sache, alleroberste Geheimhaltungsstufe, sie verstünden schon, leider fehle ihm eine kleine Information, ein Detail, nichts Besonderes, für den Gesamtzusammenhang aber unverzichtbar. Eine Information, die vielleicht er, der junge Mann hier, Schorsch junior, geben könne.
    »Oberste Geheimhaltungsstufe«, knurrte Tischfußball-Kurt. »Ihr wisst, was ich meine?«
    Der Vater wusste. Nickte ehrfurchtsvoll.
    Sein Sohn hingegen ... nun, beeindruckt schien er nicht gerade. Vielleicht hatte er überhaupt nicht verstanden, was Kurt gesagt hatte. Hin und wieder räusperte er sich nervös. Durch seine dicke Brille starrte er auf die stehen gebliebenen Schachfiguren, bewegte die blassen Lippen ... – und ich hatte das unbestimmte Gefühl, er könne die komplette Partie rekonstruieren. Ein seltsamer Knabe. Was sich hinter diesen Glasbausteinen wohl verbarg?
    Es gab nur einen einzigen Weg, das Vertrauen des Schweigsamen zu gewinnen, und der führte über seinen Vater. Für uns ein steiniger Weg, denn der Vater hatte seine eigene Vorstellung vom Ablauf des Gesprächs. Warum nicht selbst im Mittelpunkt unserer Unterhaltung stehen? Warum dem Topermittler Heidelbergs nicht die eigene, spektakuläre Lebensgeschichte servieren? An der Überleitung sollte es nicht scheitern: Ja, das Verbrechen, sagte der Ungar nickend, das Verbrechen lauere überall, davon könne er ein Lied singen. Nicht wahr, es sei nicht alles Gold, was glänze; nicht einmal hier, im goldenen Westen. Der Ehrliche sei eben doch der Dumme. Und wenn man irgendwo lerne, sich durchzuboxen, dann hier, im Kapitalismus. Er selbst zum Beispiel, das müsse er uns jetzt einfach erzählen ...
    »Ich komme gleich wieder«, unterbrach ihn Tischfußball-Kurt, schnappte seinen Orangensaft und seine beiden Dackel und verzog sich zu Maria an die Theke. Herbert stützte sich mit geschlossenen Augen auf seinen Arm, der Lange mit der Nickelbrille war hinter seinem Schnaps eingedöst. So waren Leander und ich die Einzigen, die Interesse an Schorschs Lebensweg heuchelten.
    »Passen Sie auf, meine Herren«, fabulierte er, und sein runder Kopf baumelte auf dünnem Hals hin und her. »So etwas hören Sie nicht alle Tage.«
    1956 war er nach Deutschland gekommen, er, Balant György aus Kecskemet. Hatte sich über Wien nach Köln durchgeschlagen, war in Kassel untergekommen – Heiliger Stefan, was für ein trostloses Nest! Kassel ... – und schließlich in Heidelberg. Bei guten, sehr guten Freunden. Lieben Menschen. Zu Hause hatten sie ihn den besten Rennfahrer Ungarns genannt, nicht wahr, den schnellsten und berühmtesten des ganzen Landes; aber wer in Deutschland hätte ihm, Balant György aus Kecskemet, dafür auch nur eine Mark gezahlt? Antwort: niemand. Er habe sich beweisen müssen, im goldenen Westen, nicht wahr, Tag für Tag, Rennen für Rennen. Und so wurden Nürburgring und Hockenheimring zu seiner zweiten Heimat. Dann folgte

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