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Bergfriedhof

Bergfriedhof

Titel: Bergfriedhof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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vor, ich hätte mich bei meiner Geburt in der Tür geirrt und sei nicht auf der bestmöglichen aller denkbaren Welten gelandet, sondern auf einem unvollkommenen, halb fertigen Planeten nebenan. Auf dem noch nicht alles so war, wie es sein sollte. Auf dem zum Beispiel unreife Bürschchen in grasgrüner Uniform einander Säbel ins Gesicht rammten und sich dabei wie Hermann der Cherusker vorkamen. Um anschließend zu saufen, bis sich ihnen die Magenwände umstülpten.
    Aber der Reihe nach.
    Kurz vor acht Uhr hatte ich das Allerheiligste der Rheno-Nicarier betreten, eine Jugendstilvilla am Neuenheimer Neckarufer, vis-à-vis von Schloss und Altstadt. Aber schon der Begriff Jugendstilvilla führt in die Irre. Es gab diese Ornamentik über den Türen, verschnörkeltes Rankenwerk und elegante Schriftzüge, das Haus selbst jedoch war klobig, überladen, hässlich, die roten Sandsteinmauern vom Durchgangsverkehr eingeschwärzt. Ein Mischmasch aus Trutzburg und Disneyland. Eine Treppe führte hoch zu einer ausladenden Terrasse im ersten Stock, ganz oben ragte ein Turm in den bewölkten Himmel. Es war alles da, was man brauchte: Fachwerkimitat und Tiefgarage, ein Fahnenmast, eine Gegensprechanlage und eine Hausmeisterwohnung. Neben einem der Butzenscheibenfenster glotzte das runde Auge einer Satellitenschüssel ins All.
    Es würde eine Zeitreise ins vergangene Jahrhundert werden, das merkte ich schnell. Mit jeder Stufe, die ich emporschritt, ging es ein Jahrzehnt zurück. Die Treppe endete vor einer Gedenktafel aus Messing: Unseren Gefallenen der beiden Kriege. Namen, viele Namen, ihr akademischer Grad, ihr militärischer Rang. Über der Tür zum Saal ein Wappen, so groß wie das Heidelberger Fass. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein. Ein Raum von Schwimmhallenformat schloss sich an, die Wände holzgetäfelt, die Luft schwer und verbraucht.
    Ich trat ein. Der Boden knarrte. Ein paar Köpfe drehten sich nach mir um.
    »Guten Abend«, sagte ich mit belegter Stimme.
    »Ah, da ist er ja«, rief mein Freund Frank und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. »Find ich klasse, dass du uns beehrst. Die Dinger muss ich leider drin lassen, sagt der Arzt.« Er schüttelte mir kräftig die Hand.
    »Was?«, krächzte ich.
    »Na, die Teile da.« Er zeigte auf seine geschwollene Nase, in deren Löchern Tampons steckten. »Sieht bescheuert aus, ich weiß, aber was willst du machen?«
    »Hallo«, begrüßte mich Konstantin, der mit den Glubsch-augen. Fast hätte ich ihn nicht wiedererkannt, so sauber war er.
    Auch die übrigen Sänger begrüßten mich mit Handschlag, nur Arndt war nicht anwesend. Ich sah 30, 40 Personen in dem Raum, die meisten von ihnen standen in Grüppchen herum, einige saßen bereits mit Sicht auf ein schmales Rednerpult.
    »Und? Erholt von gestern?«, fragte mich Frank. »Mensch, das war eine Keilerei!«
    Ich sah ihn an, aber ich sah ihn nicht. Er war transparent geworden. Ich hatte das Bedürfnis, die Zeit zurückzudrehen. Wäre gerne an den Fuß der Treppe gegangen, um sie noch einmal in Angriff zu nehmen. Vielleicht würde sie mich zu einem anderen Raum führen, einem Raum, in dem ich mich zurechtfände, in dem ich mich nicht wie im 19. Jahrhundert fühlte und in dem keine Menschen mit blutigen Wattepfropfen in der Nase herumliefen ... Ob das möglich war?
    »Hallo? Alles klar mit dir, Max?«
    Ich nickte. »Alles klar. Ich ... ich war noch nie im Haus einer Verbindung, weißt du.«
    »Doll hier, was? Schau dich nur um.«
    Das tat ich. Ich schaute mich um, nachdem ich meine Fassung wiedergewonnen hatte, prägte mir alle Details dieses unglaublichen Saals ein, damit ich sie jederzeit aus dem Gedächtnis würde wiedergeben können: die gerahmten Scherenschnitte an den Wänden, den Bronzeadler unter der Decke, den mühlradgroßen Kronleuchter, die verwitterten Blut-und-Ehre-Parolen in Frakturschrift. An der Stirnwand hingen zwei zerfledderte Fahnen über Kreuz, gegenüber eine Batterie von Degen, Säbeln, Floretten. Auf einem schwarzen Holztisch stand eine geschnitzte Schale, aus der buntes Plastikobst quoll. Es gab Ölbilder fechtender Husaren, einen Stich des Heidelberger Schlosses, Mensur-szenen, Trinkszenen. In einer Vitrine ein Pokal, eine Urkunde, Bierhumpen. Und ein Foto, das eine Hundertschaft von Burschen zusammen mit dem Ministerpräsidenten des Landes im Schlosshof zeigte.
    »Schon klasse hier, was?«, wiederholte Frank.
    »Ich bin beeindruckt«, sagte ich mit einer Stimme, als hätte ich Staub geschluckt. Was

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