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Bergfriedhof

Bergfriedhof

Titel: Bergfriedhof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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in der Art.
    »Vielen Dank noch mal für gestern«, flüsterte Arndt.
    »Keine Ursache«, raunte ich zurück. »Hat Spaß gemacht. Mit deinem Kopf alles okay?«
    Er nickte. »Und Ihre Verletzungen?«
    »Halb so wild.« Diese Siezerei ging mir auf die Nerven. Machten die anderen doch auch nicht, nur Marten und der junge Bünting.
    Draußen verdunkelte sich der Himmel. Seit Tagen war Regen gemeldet, ohne dass sich die Natur daran gehalten hätte. Wie so oft staute sich im Kessel des Neckartals die Hitze, sie staute und staute sich, bis zu dem Tag, an dem eine Armee von Wolken eintreffen und über der Stadt bersten würden. Heute vielleicht? Ich hätte nichts dagegen gehabt.
    Auch das Klima drinnen machte mir zu schaffen. Es fehlte an Sauerstoff, vorne quasselte Arsani ohne Unterlass, und über meinem Haupt sammelten sich die bleiernen Wolken der Müdigkeit ... Ich hatte schon immer Probleme, jemandem mehr als fünf Minuten konzentriert zuzuhören: Wissenschaftlern, Politikern, meinem Vater, Christine – egal. Mit ein Grund, warum ich der Universität den Rücken gekehrt hatte. Mehr als einmal verließ ich einen Hörsaal vorzeitig, um zu Hause ins Bett zu fallen. Man sollte diese stundenlangen Vorlesungen abschaffen. Dann würden unsere Studenten auch nicht so lange studieren.
    Dabei war Arsani alles andere als ein Langweiler. Er tänzelte um das Pult herum und spickte seinen Vortrag mit Anekdötchen. Minsk zum Beispiel, meine Damen und Herren. Dort wollte er zum Archiv Soundso, wurde aber vom Taxifahrer zum teuersten Bordell der Stadt gebracht. Wo er prompt einen echten Vermeer-Schüler entdeckte. Was er abends dem weißrussischen Ministerpräsidenten im Vier-Augen-Gespräch verklickerte. Und so weiter.
    »Von Bildung im westlichen Sinne würde ich bei Herrn Lukaschenko nicht sprechen«, sagte Arsani skeptisch. »Aber Tischmanieren hat der Mann. So kann man sich täuschen.«
    Auf diese Weise, ein lustiges Episödchen an das andere reihend, vermochte mich der Professor über die gewohnten fünf Minuten hinaus zu fesseln. Klatschte sich dabei auf die Schenkel, warf den Kopf nach hinten und strich sich das filzige Haar aus dem roten Gesicht. Auch die alten Knacker in der ersten Reihe amüsierten sich und hätten am liebsten eigene Schwänke zum Besten gegeben. Dem Burschennachwuchs ging es wie mir: Man war froh, keinen staubtrockenen Vortrag zu hören. Trotzdem ergriff mich nach und nach lähmende Müdigkeit.
    Spätestens als Arsani im halb verdunkelten Saal einen Satz Dias an die Leinwand werfen ließ, musste ich darum kämpfen, nicht einzunicken. An der Wand vor uns leuchteten Barockschinken auf, üppige Damenleiber fläzten sich auf gepolsterten Sofas oder warfen sich starken Männern an die breite Brust. Im Schatten über ihnen thronte das Wappen der Rheno-Nicaria , grün, weiß und schwarz, von den Worten Ehre, Freiheit, Vaterland in goldenen Lettern umrankt. Wäre das kein Thema für die Herren Kunstgeschichtler? dachte ich gähnend. Das Zusammenspiel von flämischem Barock, russischen Archiven und deutschem Historismus ... Man könnte es die Heidelberger Postmoderne nennen.
    Aber diese Überlegungen machte ich, wie gesagt, im nicht mehr ganz wachen Zustand. Den Burschenschaftern waren sie ohnehin schnuppe, sie nahmen sich die Freiheit, für die Ehre oder fürs Vaterland an ihren charmanten Mädels rumzufummeln, und lauschten mit halbem Ohr der wissenschaftlichen Frohnatur. Schwups, räkelte sich eine neue Nymphe unter dem Verbindungswappen, und schwups, gab Arsani eine neue Anekdote zum Besten. Wie er in Minsk am Flughafen ankam, ein Taxi in die Innenstadt nahm und ihn der Fahrer – schwups! – zum teuersten Bordell der Stadt brachte. Arsani stemmte die Fäuste in die Hüften, der Saal schüttete sich aus vor Lachen.
    Ich rappelte mich hoch und sah mich um. Ringsum tobte gute Laune. Arndt achtete nicht darauf. Er hatte sein rechtes Bein angewinkelt und den Fuß auf den linken Oberschenkel gelegt. Gewissenhaft zog er die Kruste von einer Schnittwunde an seiner Wade ab. Langsam sickerte ein dunkler Blutstropfen über die Haut.
    »Sag mal«, flüsterte ich, »hat er dieselbe Geschichte nicht schon mal erzählt?«
    Arndt zuckte die Achseln.
    Ich rieb mir erschöpft die Augen. Nein, ich hatte keine Kraft mehr. Die Müdigkeit war zu stark. Sollten sie mich wecken, wenn der Professor fertig war. Ehre, Freiheit, Vaterland ... Diese Typen waren bekloppt. Ich war bekloppt. Irgendwas stimmte hier nicht. Vielleicht hatte

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