Berlin Gothic 4: Der Versteckte Wille
scheint ihr Blick geradezu gegen die Innenwand ihres Schädels gerichtet zu sein.
„Nääääläääää!!!!“
Dann reißt sie an dem Arm, den man festgebunden hat. Merle sieht ihn unter dem Lederband auf der Armlehne liegen … sie braucht ihn doch nicht - sie muss ihn …
… einfach nur …
von sich ab -
abreißen.
Merle wirft ihren Körper herum, hört den Rollstuhl klappern, die Stimmen der Männer, die sich um sie drängen, sie zu greifen, zu halten versuchen.
Nääääääälääääää -
Der Riemen schneidet in ihre Haut. Sie schleudert ihren Körper in die andere Richtung, die Pupillen jetzt nach oben in ihren Kopf hineingerichtet, versenkt in die Schwärze, die dort herrscht - die Zunge in ihrem Mundwinkel fast schon aus ihrem Körper herausgewunden.
Da bricht das Chaos, der Wahnsinn, der ohrenbetäubende Krach, der in ihr getobt hat, plötzlich in sich zusammen.
Merle fühlt, wie etwas Weiches sich an sie legt, an sie schmiegt - sie festhält!
Ihre Pupillen richten sich langsam wieder nach vorn aus …
Es ist Nele, die sie festhält.
Merles Kopf sinkt gegen die Brust ihrer Freundin.
„Äääärrgggg - “
Nele streicht ihr vorsichtig über den Kopf. Ihre Augen stehen voller Tränen. „Mach‘s gut, Merle“, flüstert sie. „Mach‘s gut.“
4
Zwei Jahre vorher
Max‘ angewinkelter, linker Arm lag auf der Seitentür, während er mit der Rechten steuerte. Seine Augen waren hinter einer tropfenförmigen Ray-Ban verborgen.
Till ließ den Alexanderplatz vorüberziehen. Rechter Hand der Turm mit der immer baufälligeren Brunnenanlage, links die asymmetrischen Wohnblöcke von zum Teil abenteuerlicher Hässlichkeit. Der Motor heulte auf, als Max bei gelb eine Ampel überquerte und gleich wieder rechts einbog, um die gewaltige Magistrale der Karl-Marx-Allee zu erwischen.
„Sie ist dort erst vor ein paar Tagen eingezogen“, bemerkte er, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. „Eine house-warming-party oder wie das heißt.“
Irina, die Frau, zu der sie gerade fuhren.
„Sie ist mit Quentin zusammen, oder? Woher kennst du den eigentlich?“ Till schlug den Kragen seines dunkelblauen Jacketts hoch, um sich vor dem Fahrtwind zu schützen.
„Na, aus dem Internat“, entgegnete Max und warf Till einen Seitenblick zu. „Das weißt du doch.“
Stimmt, Max hatte das wohl schon mal erwähnt.
„Aber Felix und Quentin kannten sich schon vorher.“
Max gluckste. „Ja, stimmt. Als ich das erste Mal davon gehört habe, war ich auch erstaunt.“ Er schaltete einen Gang herunter, um besser beschleunigen zu können. „Ein bisschen hängen ja alle miteinander zusammen. Quentin hat auf dem Internat Henning kennengelernt - “
„Den Mann, den deine Schwester gestern geheiratet hat.“
Max nickte. „Henning ist ein paar Jahre älter als wir, ich glaube schon dreißig. Quentin hat mir erzählt, dass Henning sich ein bisschen um ihn gekümmert hat, als Quentin nach Dornstedt kam. Und durch Henning hat Quentin dann Felix kennengelernt.“
„Als du auf ein Internat solltest, war Felix doch derjenige, der deiner Mutter empfohlen hat, dich nach Dornstedt zu schicken … “
„So schlecht war das gar nicht.“ Mit einem kurzen Schlag auf die Hupe warnte Max einen Opel, der bereits blinkte, davor, auf seine Spur zu wechseln - und zog an dem Fahrzeug vorbei. „Quentin war für mich da, als ich nach Dornstedt kam.“ Er neigte den Kopf ein wenig nach unten, so dass er über den Rand seiner Brille hinweg Till ansehen konnte. „Er ist … er ist nicht immer ganz einfach. Aber ich war froh, dass ich Quentin dort hatte.“
„Was macht er denn jetzt?“
„Nach der Schule hat er angefangen, Reisereportagen zu schreiben. Die neue Urbanität oder sowas ist sein Thema - sagt er. Frag ihn selbst. Er war in Lagos, in Nigeria, vor zwei oder drei Jahren. Seitdem hat er sich auf Großstädte spezialisiert. Er sagt, in Städten wie Lagos kann man heute schon sehen, wie wir alle in ein paar Jahren leben werden.“
„Und Henning?“
„Arbeitet bei Felix in der Firma.“
„Als was?“
Max ließ die Lippen vibrieren wie ein Junge, der Motorengeräusche macht, bevor er antwortete. „ Content Manager? “
Till lehnte sich ein wenig zurück, schob jetzt ebenfalls seinen Ellbogen auf die Seitentür. Noch immer sausten die Stalinbauten vom 17. Juni beidseits der Straße an ihnen vorbei.
„Irina arbeitet auch für Felix, aber frag mich bloß nicht, als was.“
„Und der kleine, der gestern
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