Berlin Gothic 4: Der Versteckte Wille
älter als ich, dachte Till, aber egal. „Von mir aus können wir uns auch duzen.“
Henning lächelte. „Gern. Henning.“
„Till … aber ja, nein, also gern auch einen Nachmittag. Aber sagen Sie … sag doch mal … ich meine, du sagst: Die Frage der Freiheit. Die Frage? Wieso Frage … Und ‚die Frage der Freiheit‘ - meine Güte, das ist ein weites Feld, oder? Und das ist, was euch umtreibt?“ Till lächelte. „Nimm’s mir nicht übel, aber das versteh ich nicht.“
Henning sah ihn ruhig an. „Der entscheidende Punkt ist sicherlich, wie die Frage beantwortet wird. Das ist natürlich bereits unendlich diskutiert worden, aber … also einfach nur einen Beitrag zu dieser Diskussion zu leisten, darum geht es uns nicht. Nein, der Punkt ist vielmehr, dass sehr viel sehr viel klarer wird, wenn man sich einmal entscheidet, diese Frage für sich auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu beantworten - und dann danach zu HANDELN. Also zu handeln, nachdem man zu der Überzeugung gelangt ist, dass diese Frage auf eine ganz bestimmte Art und Weise beantwortet werden muss. “
„Und wie?“
„Kurz gesagt: Dass sie eine Illusion ist, die wir durchschauen müssen.“
„Die Freiheit.“
„Ja.“
„Ist eine Illusion.“
„Ja.“
„Ich glaube , ich bin frei, aber das stimmt nicht.“
„Ja.“
„Ja?“
„Ja.“
Einen Moment lang kam es Till so vor, als wäre es in der Wohnung still geworden, dann hörte er die Musik wieder, das Stimmengewirr in den anderen Räumen. Er fühlte, dass Max neben ihm stand, dass Max wartete und wissen wollte, was Till Henning darauf erwidern würde.
Natürlich, Till hatte davon gehört: Willensfreiheit, Hirnwissenschaft, es war in der Tat unendlich viel darüber gesagt und geschrieben worden, er hatte sich nie ernstlich damit beschäftigt oder Gedanken darüber gemacht.
„Ist es nicht egal? Ich meine, wie man die Frage beantwortet. Es ändert sich dadurch ja nichts. Alles bleibt, wie es ist.“
Henning legte den Kopf auf die Seite. „Das würde ich nicht sagen.“
„Wieso, was ändert sich denn?“
„Wie ich gerade gesagt habe: Unser Gesellschaftssystem, unser Weltbild, all das ist sozusagen auf einer ganz bestimmten Beantwortung der Frage aufgebaut. Ändert sich die Antwort, also die Antwort, von der die Menschen wirklich überzeugt sind - ändert sich auch das Gesellschaftssystem.“
Till überlegte kurz, bevor er antwortete. „Bisher wurde geglaubt, dass wir Menschen in unseren Entscheidungen frei sind“, meinte er schließlich. „Du … oder ihr … sagt jetzt: Das ist eine Täuschung, eine Illusion … Also was? Also gilt es, die Gesellschaft zu ändern?“
„Nein … nein.“ Henning holte Luft. Er schien sich wirklich auf Till einlassen zu wollen, machte zugleich aber auch den Eindruck, als hätte er diese Art von Gespräch bereits zahlreiche Male geführt. „Die Änderung, die sich vollzieht, muss nicht beschlossen werden.“
„Das würde ja einen freien Willen voraussetzen.“
„Richtig. Es geht vielmehr darum, sich von der Illusion zu befreien. Hat man sie erst einmal abgelegt, wie … wie eine schlechte Plastiksonnenbrille … sieht man plötzlich viel klarer. Man sieht die Dinge, wie sie sind. Man wird fast so etwas wie ein anderer Mensch, würde ich sagen. Und damit ändert sich dann auch ganz automatisch das Zusammenleben.“
Man wird ein anderer Mensch. Es klang unangenehm in Tills Ohren. Sein Blick ruhte auf Henning. Henning war schlank und groß, hatte glattes Haar, das ihm ein wenig ins Gesicht hing. „Verstehe ich dich richtig: Ob ich die Freiheit für eine Illusion halte oder nicht - das kann ich selbst entscheiden?“
Henning lachte. „Ähhh … ja! Richtig? Das kann ich selbst entscheiden, aber das ist auch das einzige, was ich entscheiden kann - ?“ Er unterbrach sich. „Natürlich nicht! Wie gesagt, lass uns mal einen Nachmittag in Mitte treffen und darüber reden. Du wirst sehen: Wenn du erst einmal angefangen hast, in einer bestimmten Richtung zu denken, werden viele Dinge dir plötzlich ganz selbstverständlich erscheinen. Denk an die Erde als Kugel … Du siehst zwar immer die Scheibe, wenn du aber einmal weißt, dass sie eine Kugel ist, glaubst du - egal was du siehst - nicht mehr an die Scheibe.“
„Ja, okay … wobei es sicherlich ganz hilfreich für das Einschwenken auf die Kugel-Vorstellung ist, wenn man die Fotos der Erdkugel aus dem All sieht, meinst du nicht? Bei der Freiheit, beim freien Willen allerdings
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