Berlin Wolfsburg (German Edition)
mit den Achseln. »Ich habe nichts Ungewöhnliches beobachtet. Das genügte
dem Kommissar.«
»Mir genügt es nicht«, sagte Luca mit breitem Lächeln.
»Fällt dir das nicht ein bisschen spät ein?«
»Besser spät als gar nicht. Ihr macht doch hier häufiger mal Fotos
oder dreht sogar Videos, stimmt’s?«
»Hm, ja, in der Regel machen wir an den Wochenenden zu vorgerückter
Stunde ein paar Fotos«, antwortete Piero. »Einige Bilder kommen an die
Pinnwand, und zweimal im Jahr veranstalten wir einen Wettbewerb: das schönste
Tanzbein, das fürchterlichste Outfit, der besoffenste Typ, das schrägste Paar,
der hübscheste Hintern, so was in der Art. Videos drehen wir nur an den
Karaoke-Abenden.«
»Klingt richtig aufregend«, kommentierte Luca. »Wer fotografiert?«
»Nun … ich hab ’ne ganz gute Kamera und bin ein ganz passabler
Fotograf – macht mir jedenfalls Spaß, die Leute zu knipsen.«
»Ich will alle Fotos sehen, die du in der besagten Nacht im März
gemacht hast.«
Piero stöhnte. »Das ist –«
»Ewig her, schon klar. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass du die
Serie gespeichert hast. Du warst in solchen Belangen schon immer sehr
ordentlich.«
Piero warf ihm einen schrägen Blick zu. »Muss das jetzt sofort
sein?«
Luca lächelte. Eine Viertelstunde später verließ er die Diskothek
mit ungefähr fünfzig Fotos, die Piero auf einen Datenstick mit dem Logo der
Diskothek kopiert hatte.
***
Johanna hatte schlecht geschlafen und war um sechs Uhr zu einem
langen Spaziergang um den Allersee aufgebrochen, der zu dieser frühen Stunde
still zwischen den Wiesen dalag. Einige Segelboote schaukelten verträumt im
Wind. Ein Zug bremste auf dem Weg zum Hauptbahnhof kreischend ab. Auf dem
Mittellandkanal schipperte ein Kahn in Richtung Berlin.
Manchmal wünschte sie sich buddhistische Gelassenheit, die
Fähigkeit, Gedanken und Stimmungen wie vorbeifahrende Züge kommen und gehen zu
lassen, ohne sich davon beeindrucken zu lassen – friedlich in sich ruhend,
nicht wertend. Doch allein das schien ein Widerspruch in sich, blieb ihr als
Polizistin, die sich mit schwersten Straftaten beschäftigte, doch gar nichts
anderes übrig als zu werten – wie sonst sollte sie Motiven und Zusammenhängen
auf die Schliche kommen? Häufig bösartigsten Motiven und erschreckenden
Zusammenhängen. Und den Frieden suchte sie vergeblich, wenn es um Macht und
Grausamkeit, Verbrechen und Gewalt ging. Vielleicht war aber auch nur ihr
Ansatz falsch. Das konnte sie nicht ausschließen, denn als Expertin für
Spirituelles war sie nun weiß Gott nicht verschrien.
Als sie um kurz nach halb acht ins Hotel zurückkehrte, fühlte sie
sich körperlich erfrischt, geistig ausgelüftet und hungrig. Das Frühstück stand
bereit, es roch nach Kaffee und selbst gebackenem Brot. Sie stellte sich eine
üppige Mahlzeit, die auch für zwei gereicht hätte, auf einem Tablett zusammen
und nahm es mit auf ihr Zimmer. Ihr Notizheft lag bereit, und sie füllte einige
Seiten mit Stichworten zu Karim Celik und Ansdorf.
Ihr mulmiges Gefühl vom Vorabend hatte sich nicht verflüchtigt, im
Gegenteil, es verdichtete sich, während sie sich das Gespräch mit dem jungen
Mann vergegenwärtigte, seiner Angst nachspürte und seine Schilderungen mit
Annegret Kuhls Ausführungen zum Angriff auf den Braunschweiger Architekten
verglich. Fehler wurden überall gemacht, Schlampereien, Notlügen und falsche
Einschätzungen waren in jedem Beruf an der Tagesordnung, und menschliches Irren
und Versagen gehörte nun mal zum Menschen dazu, so tragisch es auch häufig war.
Aber hier ging es um etwas anderes, davon war Johanna inzwischen fest
überzeugt, und der Gedanke gefiel ihr gar nicht. Ansdorf war schließlich nicht
nur ein Kollege gewesen, er war auch auf grausige Art ums Leben gekommen.
Johanna konnte den Toten nicht ruhen lassen.
Sie schob sich den letzten Bissen ihres Schinkenbrötchens in den
Mund, als das Handy klingelte und ihre Grübelei unterbrach.
»Guten Morgen, Kommissarin Krass. Können Sie sprechen?«, fragte
Annegret Kuhl.
Wenn ich den Mund wieder frei habe, dachte Johanna und schluckte
eilig. »Natürlich.« Sie war, gelinde gesagt, verblüfft. »Ihnen auch einen guten
Morgen.«
»Danke. Leider habe ich nicht besonders gut geschlafen. Sind Sie
bereits aufnahmefähig, was schlechte Nachrichten angeht?«
»Das ist sozusagen mein Hauptjob.«
»Ich habe eine interne Info aus Peine für Sie.«
»Das ging aber schnell«, staunte Johanna.
Dazu
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