Berndorf 07 - Trotzkis Narr
wo er ist. Ihn fröstelt, es riecht nach Rauch und Kohle. Dabei hat er doch keinen Kohleofen, nur den kleinen elektrischen Heizstrahler … Plötzlich fällt ihm ein, dass er ja gar nicht in Neukölln ist, sondern irgendwo in der Pampa draußen, in einer Scheune oder einem Stall oder was auch immer. Sein Mund ist klebrig, und Hunger hat er auch. Er steht auf und lockert die verspannten Schultern, dann geht er zu dem Stuhl, über den er die Jacke zum Trocknen gehängt hat. Im Futter ist noch immer Feuchtigkeit. Egal. Er kniet sich vor den Ofen und stochert mit dem Schürhaken nach Glut, aber da ist nur noch Asche.
Es ist auch besser so. Die Leute auf dem Land stehen früh auf, und dass einer den Rauch über der alten Scheune sieht und sich sonst was denkt und sonst wen anruft, das hat ihm gerade noch gefehlt. Wie spät ist es überhaupt? Er sucht nach seinem Handy, dann fällt ihm wieder ein, dass er keines mehr hat.
Erst einmal zieht er die Jeans an. Die sind auch noch klamm, aber das wird sich geben. Der Pullover ist bis auf die feuchten Stellen auf der Brustseite trocken. Er zieht die Schuhe an, verlässt das Kabuff und geht an Regulskis Opel vorbei zum Wasserhahn, das schmuddelige Handtuch aus dem Spind unterm Arm. Wieder einmal muss er erst ein paar Mal pumpen, ehe klares Wasser kommt, dann trinkt er aus der hohlen Hand. Er feuchtet das Handtuch an und säubert gründlich die Schuhe. Aus irgendeinem Grund ist ihm das wichtig.
Inzwischen weiß er auch, wie er zu einer Zeitangabe kommt. Er geht zu dem Wagen und öffnet die Tür, holt dann aber doch erst die Decke und breitet sie über Fahrersitz und Lehne aus, eher er sich hineinsetzt und das Radio einschaltet. Er sucht herum, überall Gedudel, sentimental und katzenjämmerlich, jemand redet fromm, wieso? Es ist Sonntag, hast du das nicht begriffen? Endlich findet er etwas, das sich nach Heavy Metal anhört, er lehnt sich in seinem Sitz zurück, schließt für einen Augenblick die Augen und fühlt sich schon wieder nur noch müde. Dann verklingt das letzte Gitarrenriff, irgendwer will ihm ein Los von der Glückslotterie verkaufen und jemand anderes Früchtemüsli, schließlich wird es doch noch wahr, und der Sprecher von Radio Fünf Neunundsechzig sagt, dass es jetzt 5.27 Uhr sei, drei Minuten vor halb sechs, und es gebe keinen Stau, nirgends, nur dass auf der A 115 ein verlorener Spanngurt liegt.
Harlass hört zu, die Augen noch immer geschlossen. Aber das, worauf er wartet, kommt nicht. Keine Bitte an die Autofahrer, im Westhavelland keinen Anhalter mitzunehmen. Keine Warnung vor dem flüchtigen Gewaltverbrecher Lutz Harlass, kein: Vorsicht, der Mann ist bewaffnet und greift sofort zur Schusswaffe! Fahren Sie gut und passen Sie auf sich auf – das ist schon alles.
Harlass richtet sich auf. Wieder fröstelt er. Er überlegt, ob er den Wagen in der Scheune stehen lässt und querfeldein geht, bis zum nächsten Bahnhof. Aber wo ist der nächste Bahnhof? Er greift sich den Straßenatlas aus dem Handschuhfach rechts. Irgendwann war er gestern Abend von einer Straße abgebogen, das könnte die von Kremmen nach Herzberg/Markt gewesen sein. Er könnte zurück nach Kremmen, dort den Wagen auf einem Parkplatz abstellen und den nächsten Zug nehmen, egal wohin. Plötzlich findet er auf der Karte Crammenow, das liegt irgendwo im Westhavelland, eine Bahnlinie führt auch dran vorbei, und in Luftlinie ist es gar nicht so weit weg von Kremmen. Warum überlegt er sich das?
Später. Er steigt wieder aus, geht in das Kabuff und zieht die noch immer klamme Jacke an. Dann packt er ins Auto, was er sonst dabeihat, verstaut Regulskis Pistole in der Aktentasche und steckt die Russenknarre ins Seitenfach an der Fahrertür. Schließlich schiebt er das Scheunentor auf, stößt mit dem Wagen zurück, schließt das Tor, wendet und fährt los. An der Einmündung des Fahrwegs in die Landstraße hält er kurz an und wirft noch einmal einen Blick auf die Straßenkarte. Wenn er über Lindow und Gransee und Zehdenick fährt und so viel Glück hat, dass er an diesem Sonntagmorgen keinem Streifenwagen begegnet, dann erreicht er in einer knappen Stunde Prenzlau. Das ist, von Berlin aus gesehen, eine ganz andere Ecke als dieses Crammenow. Außerdem ist es von dort nicht mehr weit zur polnischen Grenze und nach Stettin.
Das, so denkt Harlass, wird sich auch die Polizei sagen, wenn sie den Wagen erst einmal gefunden hat.
Z wischen den kahlen Zweigen eines Straßenbaums scheint der Morgen herein
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