Bernsteinsommer (German Edition)
etwas wie eine Überraschung – und die ältere Dame hinter dem Verkaufstresen war es noch mehr. Finn wusste aus Erzählungen, dass die Frau schon seit mehr als vierzig Jahren diesen Laden führte, also musste sie um die sechzig Jahre alt sein. Trotzdem war sie gertenschlank, und ihre ganze Erscheinung wirkte ausgesprochen jugendlich und sehr sportlich. Sie trug Jeans, weiße Segelschuhe und ein weites, weißes Männerhemd. Ihr raspelkurz geschnittenes Haar war dunkelblond mit nur wenigen eisgrauen Strähnen darin. Sie schien stets fröhlich zu sein, denn um die Augen zeigten sich lauter feine Lachfältchen, die ihr ganzes Gesicht zum Strahlen brachten. Ehe Finn sich versah, hatte Magda Quint ihn in eine Unterhaltung verwickelt, die ihm auch noch immensen Spaß bereitete, wie er insgeheim zugeben musste.
„Wenn Ihnen abends mal nach Gesellschaft und einem gut gezapften Bier sein sollte, schauen sie ruhig bei den Brockmanns vorbei, junger Mann. Der Gasthof ist recht gemütlich, und es geht dort immer sehr lustig zu. Besonders am Samstagabend, dann trifft sich dort nämlich fast alles, was auf der Insel zwei Beine hat. Mhmm, jetzt werden ja auch bald wieder ein paar Gäste mehr auf Sameland sein. Das Wetter wird besser.“
Finn nickte. „Stimmt, der Sommer kommt. Heute am Vormittag war es sogar richtig warm. Sagen Sie, Frau Quint, wie viele Einwohner gibt es eigentlich auf Sameland?“
Sie lachte. „Ganze dreiundsiebzig Köpfe zurzeit. Allerdings ist das Mädchen von Hänschen schwanger. Sie haben erst im Februar geheiratet.“
„Hänschen?“
„Ja, Hans Morten. Er ist sozusagen unser Bürgermeister. Letztes Jahr haben wir ihn gewählt. Der Junge ist in Ihrem Alter, also noch jung genug – und irgendwer muss ja den Job machen, nicht wahr? Hans ist übrigens ein Nachkomme einer der dänischen Familien, die schon vor Jahrhunderten über das Meer hierher gefunden haben. Die Legende sagt, ein ganzes Dorf hätte sich seinerzeit vor kriegerischen Horden in Sicherheit bringen müssen. Sie haben Holzboote gebaut und sinddamit dann hier gelandet. Na ja, die Dänen waren ja seit jeher recht gute Seefahrer. Und obwohl wir geografisch zu Deutschland gehören, ist die Nähe zur großen Insel Seeland doch noch immer deutlich spürbar, finden Sie nicht?“
Ihr unverfälscht lautes und fröhliches Lachen erinnerte ihn entfernt an das seiner Mutter. Finn grinste, auch weil er ganz plötzlich ein seltsames Gefühl von Geborgenheit empfand. „Und Feriengäste? Wie viele Ferienhäuser gibt es hier eigentlich?“
„Es sind nur acht. Zwei davon stehen allerdings zum Verkauf. Da wird also wohl diesen Sommer niemand wohnen. Aber … es gibt auch noch ein paar private Ferienwohnungen, und die Brockmanns haben an die zwanzig Zimmer in ihrem Gasthof, die sie vermieten. Man soll es nicht glauben, aber die sind in den Sommermonaten meistens ausgebucht. Gott sei Dank ist Sameland auf dem Festland zwar kaum jemandem ein Begriff, aber diejenigen, die die Insel einmal kennengelernt haben, kommen immer wieder.“
„Ja.“ Finn holte tief Luft. „Es ist auch wirklich schön hier.“
„Sie müssen unbedingt lange Spaziergänge durch die Dünen im Norden machen. Dort, ganz an der Nordspitze von Sameland, ist es so einsam, dass Sie glauben könnten, Sie wären ganz allein auf der Welt, und Sie sehen ganz so aus, als hätten sie das bitter nötig, Junge.“
Er stutzte. „Wie kommen Sie denn darauf?“
„Och, ich weiß nicht. Nur so ein Gefühl, das sich mir aufdrängt, wenn ich in Ihre hübschen Augen sehe.“ Weil er immer noch ein wenig verständnislos, aber auch verwundert aussah, fuhr sie fort: „Traurigkeit, Schmerz – ja, ein Schmerz. Ich sehe Leid in Ihren Augen. Tiefes Leid sogar, wenn ich mich nicht irre.“ Sie atmete kurz durch und schüttelte sich ein wenig. „Gehen Sie in die Dünen im Norden und schauen Sie, so oft es nur geht, mindestens eine Stunde lang auf das Meer, Finn. Lassen Sie sich vom Wind mal tüchtig durchpusten und öffnen Sie all Ihre Sinne für die wilde Natur dort oben. Das ist die großartigste Therapie der Welt. Glauben Sie mir, was auch immerSie quält, Sie werden es schon nach wenigen Tagen viel leichter ertragen können.“
Noch bevor er auf diese eigenartig nachdrücklichen Worte von Magda Quint eingehen konnte, kam ein neuer Kunde in den Laden. Schweigend bezahlte Finn seine zwei Flaschen Holzleim und die Stange Zigaretten.
„Wenn Sie etwas Ungewöhnlicheres benötigen als einfachen
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