Bernsteinsommer (German Edition)
Weg am Strand dauerte etwas länger als der oben auf der Deichkrone.
Zunächst blieb er am Strand stehen und schaute eine Weile auf die Ostsee hinaus. Der Wind blies heute nicht ganz so kräftig wie sonst, und der strahlende Sonnenschein ließ bereits den nahenden Sommer erahnen. Finn wurde plötzlich bewusst, wie sehr er sich schon an den typischen Geruch und die alltäglichen Geräusche der Insel gewöhnt hatte. Ja, er gestand sich sogar ein, dass er Sameland vermissen würde, wenn seine Arbeit erst getan war.
Hier an der Nordspitze sah man nur sehr selten Fähren, denn die üblichen Routen nach Skandinavien lagen nicht in unmittelbarer Sichtweite. Im Süden der Insel war das anders. Dort war bei gutem Wetter deutlich mehr Schiffsverkehr zu beobachten.
Nach einer Weile beschloss Finn, sich für ein paar Minuten wieder auf einen der hellen Felsen zu setzen, bevor er seinen Rückweg zum Martinelli-Haus antreten würde. Er blieb dieses Mal dichter am Wasser und verließ den Sandstreifen nicht. Stattdessen ließ er sich einfach auf dem nächstgelegenen kleinen Vorsprung nieder. Seine Schuhe versanken ein wenig im feinen weißen Sand, als er sich setzte. So wie beim letzten Mal lehnte er sich zurück an die etwas höheren Felsen in seinem Rücken und atmete bewusst einige Male tief ein und wieder aus.
Er dachte an Kira, und deshalb überprüfte er auch sofort, ob der Vibrationsalarm an seiner Armbanduhr aktiviert war. Genau so, wie er es schon fast zwanghaft mehrmals am Tag tat, außer wenn er selbst bei ihr war. Seine Uhr war über den kleinen Chip direkt mit seinem Computer verbunden, und so würde er auch hier sofort ein Signal erhalten, wenn Kira Besuch bekam. Er hoffte, dass sie heute tatsächlich im Haus blieb, um zu arbeiten. Letzten Endes war es immer ein Risiko, wenn er sie aus den Augen ließ.
Nach einer Weile holten ihn wieder einmal die quälenden Gedanken an Mike ein, aber er beschloss sofort, die Erinnerungen dieses Mal bewusst zuzulassen und anzunehmen, so wie es ihm sein Psychiater in mehreren Sitzungen geraten hatte. Also schloss er die Augen, und abermals spulte sich in seinem Kopf der gesamte Ablauf des verhängnisvollen Tages ab, andessen Ende Mike sein Leben lassen musste. Angefangen mit dem Geburtstag von Jonas, Lenas und Mikes kleinem Sohn. Finn hatte seinem Patenkind an diesem Tag eine kleine ganz einfach zu bedienende Kamera geschenkt. Bei dem Gedanken an die leuchtenden Augen von Jonas Grendler musste Finn nun sogar ein wenig lächeln. Der Junge war den lieben langen Tag herumgehastet, um voller Begeisterung alles und jeden zu fotografieren. Finn liebte dieses Kind sehr. Nicht nur, weil es sich bei dem Jungen um sein Patenkind handelte, sondern weil Jonas einfach Jonas war. Der Kleine war Mike nicht nur äußerlich sehr ähnlich, vielleicht war das der eigentliche Grund für Finns ungebrochene Zuneigung zu dem Kind.
Wenn er an diesen Tag zurückdachte, erinnerte sich Finn aber auch noch daran, dass Mike und er – zwischen dem Aufblasen von Luftballons und den üblichen wilden Kindergeburtstagsspielen – immer wieder über den Einsatz sprachen, der ihnen am selben Abend noch bevorstand.
Von einem V-Mann hatten sie den entscheidenden Tipp bekommen, dass an diesem speziellen Abend eine beachtliche Lieferung Kokain ihren Besitzer wechseln würde. Die Übergabe sollte in einer alten Lagerhalle direkt am Hafen stattfinden. Um nicht aufzufallen, wollten sich zwei Männer dort treffen und das Geschäft in aller Kürze abwickeln, indem sie schlicht und einfach ihre fahrbaren Untersätze austauschten.
Finn kannte sich gut im Hafengebiet aus. Er wusste auch, dass die Gegend rund um diese Lagerhalle gerade nachts so einsam und abgelegen wirken konnte, als würde man sich allein auf Gottes Erde befinden und nicht inmitten einer Großstadt.
Der Einsatz war genau durchgeplant gewesen – und der Zugriff musste verdammt schnell erfolgen, das wussten sie.
Mike und er sollten zunächst allein vor Ort sein, um die Richtigkeit des Tipps zu überprüfen. Die Einsatzkräfte würden aus Gründen der Tarnung in einiger Entfernung auf Finns oder Mikes Befehl für den Zugriff warten, wären aber innerhalb kurzer Zeit ebenfalls dort gewesen. Ja, alles war perfekt durchgeplant … zumindest fast alles.
Zwei Drogendealer gegen zwei erfahrene Kriminalbeamte mit zwanzig weiteren Beamten als Rückhalt – was konnte da schon passieren?
Finn stieß ein missbilligendes Schnaufen aus, das allein ihm selbst
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