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Beruehre meine Seele

Beruehre meine Seele

Titel: Beruehre meine Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Vincent
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ich konnte mit dem Umriss, der nach und nach Gestalt annahm, nichts anfangen.
    In meinem Zimmer war ein Mann in einem weißen Hemd mit verdeckter Knopfleiste. Er saß auf meinem Schreibtischstuhl und betrachtete mich schweigend, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine dunklen Augen funkelten erwartungsvoll, vielleicht auch amüsiert, das konnte ich nicht genau sagen. Als würden wir uns kennen und er auf eine entsprechende Reaktion von mir warten. Aber ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen – an dieses Gesicht hätte ich mich unter Garantie erinnert. Jung und glatt, mit einem markanten Kinn und breiter Stirn. Wäre er mir auf einer Party begegnet, hätte ich sicher ein zweites Mal hingesehen – oder zugesehen, wie Emma bei seinem Anblick dahinschmolz. Aber in meinem Zimmer, mitten in der Nacht …?
    „Raus hier.“ Ich beugte mich auf der anderen Seite der Matratze unters Bett, um den Aluminiumbaseballschläger hervorzuholen – einer von Nashs Reserveschlägern –, den ich für alle Fälle dort deponiert hatte. Mittlerweile war ich daran gewöhnt, mit nächtlicher unerwünschter Gesellschaft rechnen zu müssen.
    „Du weißt nicht, wer ich bin, oder?“
    „Nein, und es interessiert mich auch nicht.“ Unangemeldeter Besuch zu nachtschlafender Zeit bedeutete selten etwas Gutes – das beste Beispiel dafür waren Jacob Marley und penetrante Weihnachtsgeister. „Und jetzt raus, sonst schreie ich nach meinem Vater.“
    Der Fremde lehnte sich gemütlich in meinem Stuhl zurück und machte es sich erst so richtig bequem. „Wie geht’s deinem Vater?“, fragte er und starrte mich weiter mit diesem durchdringenden Blick an, als hätte er lieber meine Gedanken gelesen, anstatt sich auf normale Weise mit mir zu unterhalten. „Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit … wie lange ist es her? Dreizehn Jahre?“
    Nein, nein, nein . Ich schüttelte den Kopf, doch die plötzliche Erkenntnis ließ sich nicht verscheuchen, genauso wenig die sich dazu gesellende Panik, die in mir aufkam. „Thane?“, flüsterte ich, plötzlich am ganzen Körper fröstelnd.
    Er war zu früh dran, viel zu früh.
    „Nein. Du kannst noch nicht hier sein.“ Ich spähte in den Flur und wollte schon nach meinem Dad rufen, als mir im letzten Moment einfiel, was Todd gesagt hatte. Wenn Dad Thane in die Quere käme, würde der ihn umbringen, ohne mit der Wimper zu zucken. Dieser Mord wäre zwar Beweis genug, dass Thane sich nicht an die Spielregeln hielt, sodass er gefeuert werden könnte, dummerweise würde das jedoch meinen Vater nicht zurückbringen.
    Anstatt zu schreien, ging ich in die Defensive und wich langsam vom Bett zurück, den Schläger fest mit beiden Händen umklammert, auch wenn mir der im Ernstfall wahrscheinlich nicht viel nützen würde. Trotzdem, ich konnte das hier allein regeln, ohne meinen Vater in Gefahr zu bringen. „Ich habe noch fünf Tage, und die wirst du mir nicht …“
    „Entspann dich.“ Thane lächelte, doch egal, wie gut er aussah, die Falschheit und Selbstgerechtigkeit standen ihm im Gesicht geschrieben. „Ich dachte nur, wir sollten uns schon mal offiziell bekannt machen, immerhin werde ich das Letzte sein, was du jemals siehst.“
    Ich atmete tief durch und versuchte, mir die Tatsache vor Augen zu halten, dass er nicht hier war, um mich zu holen – noch nicht –, und zwang mich, nicht weiter darüber nachzudenken, was er dann mit diesem Besuch bezwecken könnte. „Machst du das öfter? Dich vorher schon mal deinen Opfern vorstellen, weil du es lustig findest, ihre Angst zu schüren?“
    „Du bist nicht mein Opfer, du bist ein Auftrag“, berichtigte Thane und beobachtete jede meiner Bewegungen, als ich mich wieder aufs Bett setzte und den Baseballschläger gegen meinen Nachtschrank lehnte, als wäre ich nicht länger schockiert und verängstigt. „Spielst du immer die Coole, wenn plötzlich ein Reaper in deinem Zimmer steht?“
    Jetzt nur keine Angst zeigen .
    Ich zuckte mit den Schultern und wechselte betont gelassen in den Schneidersitz. „Ich kenne viele ungewöhnliche Leute.“
    „Natürlich. Weil du eine Banshee bist, richtig?“, stellte Thane fest, als wäre ihm dieser Umstand gerade erst wieder eingefallen. „Und das macht mich zu einem vom Glück verwöhnten Arbeitsbienchen. Die meisten Reaper müssen sich ihr gesamtes Leben nach dem Tod mit menschlichen Seelen begnügen und kommen nie in den Genuss einer erfrischenden Abwechslung wie dieser. Und für mich ist es sogar schon das zweite Mal.

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