Beruehre meine Seele
um nicht bemerkt zu werden.
Eine Sekunde später rollte grauer Nebel wie aus dem Nichts auf mich zu. Die Nebel der Unterwelt waren dünn, die Grenze zwischen den Welten war kaum sichtbar. Solange ich in den wirbelnden Schwaden stand, gehörte ich keiner Welt an, weder der menschlichen noch der Unterwelt. Ich war zwischen den Welten gefangen, meine Begleiter waren lediglich die formlosen Kreaturen, die sich durch den Nebel schlängelten – eine ständige Ermahnung, entweder in die eine oder die andere Richtung weiterzugehen.
Ich trat einen Schritt von der Nebelwand zurück, und ein einziger klarer Gedanke – Ich will überwechseln – löste den Nebel auf. Die Unterwelt materialisierte sich erschreckend klar und abstoßend vor mir.
Der erste Anblick war immer der schlimmste, bis man blinzelte und den zweiten Blick wagte. Dann wurde einem klar, dass das Bild nicht einfach verschwinden würde, nur weil man leicht die Hacken zusammenschlug.
Das Gebäude um mich herum hatte sich nicht groß verändert. Da während des Schuljahrs immer viel Betrieb herrschte, schwappte die Eastlake High ziemlich genau so in die Unterwelt über, wie sie in der Menschenwelt existierte. Der Unterschied lag darin, was die Unterwelt mit dem Gebäude anstellte.
In der Unterwelt-Version des Eastlake-Mathe-Flügels zogen sich Crimson Creeper über die Wände, eine verknäulte Masse sich schlängelnder dunkelgrüner Ranken, aus denen alle paar Zentimeter rot gezackte Blätter sprossen. Wie anzunehmen, war es eine fleischfressende Pflanze, die alles Essbare innerhalb ihrer Reichweite vertilgte, weshalb ich auch schön in der Mitte des Flurs blieb. Die echte Gefahr ging jedoch von den Tausenden von dünnen, aber stahlharten Dornen aus. Ein einziger kleiner Kratzer, und das Gift an den Spitzen würde die inneren Organe des Opfers zersetzen. Die Ranke brauchte dann nichts anderes zu tun, als sich um ihre Beute zu winden und zu warten, bis der Auflösungsprozess so weit fortgeschritten war, dass sie die Flüssigkeit, sozusagen als Pflanzendünger, aufnehmen konnte.
Einmal hatte ich mich am Dorn eines jungen Ausläufers verletzt, und die Narben an meinem Knöchel waren die lebenslange Ermahnung, mich nie wieder mit einer solchen Pflanze anzulegen.
Leider zogen sich meterlange Ranken im Zickzack direkt vor Becks Schwelle hin und blockierten den Zugang zu der Unterwelt-Ausgabe seines Zimmers. Noch immer konnte ich nicht in den Schrank gelangen, wo ich eigentlich vorgehabt hatte, wieder überzuwechseln. Erst würde ich die Ranken entfernen müssen, und jede Minute, die ich hier in der Unterwelt verschwendete, war eine Minute, die Emma Becks Inkubus-Charme ausgeliefert war.
Einen kurzen Moment blieb ich still stehen und lauschte, ob sich eventuelle Unterwelt-Kreaturen in der Nähe herumtrieben. Als ich nichts Bedrohliches vernehmen konnte, rannte ich den Gang hinunter, immer sorgsam darauf bedacht, nicht mit den gewundenen Pflanzenausläufern in Berührung zu kommen. Ich sah in jeden Klassenraum, an dem ich vorbeikam, bog rechts um die Ecke, rannte am Sprachlabor vorbei, weiter bis in den naturwissenschaftlichen Flügel, und stieß den so lange angehaltenen Atem erst aus, als ich sah, dass eines der drei Chemielabore offen stand und bis auf eine, die sich über die oberste Ecke der Tür gelegt hatte, frei von Creeper-Ranken war.
Die Hocker an den hohen Arbeitspulten fehlten, aber die Tische selbst waren nicht von den üblichen Unterwelt-Kriechern und -Pflanzen befallen. Ich kramte in den Schubladen, fand aber nichts Brauchbares, nur Unmassen an Bleistiften, Radiergummis und Linealen. All die nützlichen Dinge mussten in den Schränken am Ende des Raums eingeschlossen sein.
Als ich hinübersah, bemerkte ich, dass die Vorhängeschlösser aus der Menschenwelt nicht mit herübergeschwappt waren. Bedeutete das jetzt, dass die Vorräte und Materialien auch nicht hier waren?
In dem Bewusstsein, dass die Uhr unaufhaltsam weitertickte, rannte ich zu den Schränken, riss den ersten auf – und grinste breit beim Anblick der vollen Regale.
Ich streifte mir die Neoprenhandschuhe vom dritten Regal über, schob Bunsenbrenner und Glasphiolen beiseite, bis ich in der hintersten Ecke auf einen Korb mit Scheren stieß. Ich nahm mir die größte, die ich finden konnte, und setzte noch eine Schutzbrille auf – nur für den Fall –, dann rannte ich los. Auf dem Linoleum machten meine Turnschuhe kein Geräusch. Ich war noch mehrere Meter von der Stelle entfernt,
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