Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
in der Dunkelheit, über ihre eigenen Füße. Die Lichter der Wachen dicht auf den Fersen.
Die Knöchel schmerzten, als sie versuchte, die Finger zu bewegen. Irgendein Dreckskerl hatte ihr den Degen aus der Hand geschlagen, als man sie am Pier umzingelte. Yve hatte sich ein Herz gefasst, tief Luft geholt, und war gesprungen. In die widerlichen Fluten war sie eingetaucht, nur um festzustellen, dass es sich um jenen Kanal handelte, der in den Wachbezirk hinein und nicht aus ihm hinaus floss.
Yve tastete über ihren Hinterkopf und zuckte zusammen. Mit voller Wucht war sie gegen die Gitter geschlagen, die in der Mauer zum Äußeren Ring Ral’is Doshts eingelassen worden waren. Über ihr leuchteten die Lichter der Wachtürme. Da war ihr gewesen, als schaue jemand zu ihr hinunter und sie tauchte. So tief die ihr verbliebene Kraft es zuließ.
In der Dunkelheit fand sie ein Loch zwischen den Drähten, groß genug, dass sie hindurchpasste und…
Ferzo! Was war mit Ferzo geschehen? Wie sehr sie hoffte, dass ihm nichts zugestoßen war!
Yve versuchte , sich zu fassen. Sie war auf der anderen Seite. Ein Anfang. Hier würde wohl niemand nach ihr suchen. Sie durfte sich jetzt keine unnötigen Sorgen machen. Sie musste an ihr eigenes Überleben denken.
Was also war zu tun? Aus der Stadt hinaus würde sie es kaum schaffen, jetzt nicht, da jeder auf der Suche nach ihr war.
Ihr fielen die Augen zu. Sie hatte Kopfschmerzen. Alles tat so schrecklich weh…Da kam ihr ein Geistesblitz. Reird!
Sie hatte Reird Laine vor etwa vier Jahren kennengelernt. Er war neu in der Stadt gewesen und auf seiner ersten Patrouille hatte sie ihn entdeckt. Er war ihr gerade recht gekommen. Unvorsichtig und unerfahren. Aber auch sympathisch. Ein Kinderspiel. Ein Verbündeter beim Wachpersonal. Seither waren sie gute Freunde, zuweilen ein bisschen mehr als das.
Er würde ihr helfen.
Manchmal wünschte Yve sich, sie wären sich unter anderen Umständen begegnet. Es tat ihr leid, ihn auszunutzen. Reird war ein anständiger Kerl.
Aber hatte sie eine andere Möglichkeit?
Sie sprang auf die Füße und wünschte sich gleich darauf, sie hätte es nicht getan. Ihr schwindelte. Dennoch tastete sie sich vorwärts. Es konnte nicht sehr weit sein. Sie wusste, er wohnte nahe der Mauer.
Als Yve sein Haus erreichte, konnte sie nicht länger sagen, ob der Nebel, der vor ihren Augen tanzte, natürlichen Ursprungs war oder nicht. Kaum wurde die Tür geöffnet, fiel sie demjenigen, der dahinter stand, bewusstlos in die Arme.
» Ich bin bei dir, Süße«, hörte sie eine Stimme dicht an ihrem Ohr. Yve zuckte zusammen. Blinzelte. Kam wieder zu sich und versuchte zu begreifen, was geschehen war.
» Sicher kannst du eine Weile bei mir bleiben«, fügte Reird Laine hinzu und lächelte, kaum dass sie die Augen aufschlug.
» Was?«
» Ich werde dir Unterschlupf gewähren, das ist doch selbstverständlich. »
» Woher…?«
» Beruhig dich erst mal«, beschwichtigte der junge Soldat sie. »Du hast mir bereits eine ganze Menge erzählt.«
Yve verstummte und schaute sich um. Tatsächlich. Da lag sie in seinem kleinen, aber gemütlichen Wohnzimmer, das so unordentlich war, dass sie unversehens lächeln musste. Als sie sich ihm wieder zuwandte, war Reirds Stirn jedoch vor Sorge zerfurcht. »Es tut mir so leid«, murmelte er. »Wenn ich sonst noch irgendetwas für dich tun kann…«
Der Schmerz des Betrug es und des Verlustes packte Yve erneut mit aller Kraft. Ihre Fabrik war dahin, ihre beste Freundin tot und auch ihre Wohnung hatte sie aufgeben müssen, da sie die Miete an die Wachleute, ohne das Einkommen durch ihr Unternehmen, nicht mehr zahlen konnte.
Sie fühlte sich verlassen und leer – und in den dunklen Stunden der Nacht hatte sie noch leise vor sich hin geweint. War der festen Überzeugung gewesen, dass es keinen Menschen gab, dem es so elend ging wie ihr. In Wahrheit war sie sogar dankbar für die wenigen Stunden, die ihr in völliger Gefühlskälte blieben, wenn die Tränen versiegten und die Enttäuschung nachließ. Diese Zeit aber war begrenzt, bis es sie nach neuem Stoff verlangte.
Yve schüttelte den Kopf und somit die trostlosen Gedanken ab. Sie zog Reird zu sich heran und zerwuschelte ihm das rote Haar. »Ich wüsste nicht, wo ich ohne dich wäre. Wirklich nicht.« Sie konnte die Dankbarkeit, die sie dem jungen Soldaten gegenüber empfand, nur schwer in Worte fassen. Abgesehen davon, dass sie gar nicht wusste, wie man so was tat.
» Ach
Weitere Kostenlose Bücher