Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
schützen.
» Der Draht hält die meisten Fluchtversuche ab.« Yirdah schien erleichtert.
Zu meinem Leidwesen. Auch daran erinnerte sie sich. Bei einem erneuten Versuch, den sie alleine, heimlich, still und leise in der Nacht hatte unternehmen wollen, war sie ungeschickt an dem Draht hängen geblieben, hatte sich übel verletzt und wäre fast von der Mauer gestürzt. Knapp war sie dem Beschuss, der daraufhin einsetzte, entkommen. Mit einer hässlichen Narbe am Oberschenkel und einem Einschussloch an der Schulter.
» Da bin ich aber erleichtert«, sagte Yve.
» Oh«, sagte das Mädchen plötzlich.
» Was?«
» Sie bringen Neuankömmlinge.«
» Sollten wir dann nicht lieber weiter gehen?« Würde sie den Anblick der Verdammten ertragen können, da sie doch genau wusste, was diese armen Menschen erwartete? Yve schauderte davor und bei dem Gedanken daran wurde ihr übel.
Die Soldaten vor dem Tor scheuchten die Passanten bei Seite und sorgten dafür, dass sie einen Sicherheitsabstand beibehielten. Dann betätigte man den Öffnungsmechanismus, der die Flügel des Tores langsam aufschwingen ließ.
Yirdah schien sich das Schauspiel ansehen zu wollen, also blieb Yve keine andere Wahl.
Stocksteif starrte sie auf den von Ochsen gezogenen Wagen, der sich durch den Spalt zwischen den Flügeln schob. Auf dem Bock saß ein in schwarz gekleideter, hässlicher Mann, der die Peitsche sausen ließ. Ob der Mann für seinen Auftritt gut bezahlt wurde? Anders konnte sie sich diese Theatralik nicht erklären. Der Zug ließ Yve und Yirdah an den Straßenrand zurückweichen.
In den Wagons saßen unterschiedlich viele Menschen beisammen. Die Soldaten, die nebenher gingen, tuschelten miteinander. Sie hörte sie von zwanzig Eingelieferten murmeln. Zwanzig! Ferzo hatte Recht, die Zahl steigt.
Ihre Augen huschten über die vergitterten Fronten der Wagons, die sie an Tierkäfige, wie es sie in einem Zirkus geben mochte, erinnerten. In einem der Wagen erkannte sie eine weinende Frau, die ein kleines Mädchen fest an ihre Brust drückte. Habe ich damals einen ähnlichen Anblick geboten? , fragte sie sich. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Niemand, kein einziger Mensch hatte es verdient, zu einem Leben in Ral’is Dosht verdammt zu sein! Sie musste doch irgendetwas tun können. Weitere armselige Gestalten fuhren an ihr vorüber und machten ihr das Herz noch schwerer.
Als Yve einen Wagon entdeckte, dessen Äußeres, bis auf ein winziges Fenster, durch dessen Gitter sich ein schuppiger Arm streckte, vollständig verrammelt war, wurde ihr der Mund staubtrocken. Anstelle einer Hand besaß die Kreatur eine gebogene Klaue mit langen Krallen. Die schillernde Panzerung erinnerte sie an einen Drachenpanzer. Ein Dämon! Es wunderte sie, dass sich einer von denen hatte fangen lassen.
Ein absurdes Bedürfnis überkam sie, sich der Kreatur zu nähern.
Sie tat ihr Bestes diesen Impuls zu unterdrücken.
Da entschlüpften ihr die Worte wie von selbst : »Ich kenne ihn.«
Wie in Trance hielt sie auf den Wagen zu.
Yirdah hielt sie fest, aber Yve wehrte sie mit einer Bewegung ab.
Sie eilte auf das Fenster zu und griff nach der grotesken Hand, die unruhig hin und her zuckte und versuchte , etwas zu fassen. Geschickt wich Yve den Klauen aus und hielt den Fremden fest. »Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin da«, flüsterte sie. Zeitgleich erklangen laute Stimmen hinter ihr.
» Hey, Lady! Verschwinden Sie dort! Das ist gefährlich.«
Sie ignorierte sie und sprach weiter auf den neuen Insassen ein. »Sch, sch, sch. Sei unbesorgt. Alles wird gut. Ich bin es. Yvena.« Sie horchte, der Arm wurde zurückgezogen und die Kreatur im Inneren richtete sich auf, bis ihr entstelltes Gesicht zum Vorschein kam. Es erinnerte mehr an ein riesiges Reptil, irgendetwas in Richtung Krokodil, als an einen Menschen. Dennoch erschien es ihr vertraut. Sie beobachtete, wie das Gesicht ungestalt zu zucken begann, sich verformte, bis es einem menschlichen Antlitz ähnelte.
Da packten rohe Hände sie bei den Armen und zerrten sie nach hinten . »Lasst das!«, schrie Yve. »Fasst mich nicht an!« Sie trat dem Soldaten auf den Fuß und vollführte eine halbe Drehung. Ohne die hinzueilenden Männer zu beachten, rannte sie dem Wagen des Dämons hinterher.
Vor dem Gitter stoppte sie. Ohne Zweifel blickte sie in das Gesicht ihres Onkels . »Du bist es«, entfuhr es ihr. Der ältliche Mann hatte tiefe Falten und einen kahlen Kopf. Er nickte ihr aus feuchten Augen zu.
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