Beseelt
ihr Magen sich angespannt anfühlte und ihr ein wenig übel war, schaute Brighid zu, wie Bregon dem Becken den Rücken zuwandte und im Wald verschwand. Plötzlich stockte ihr der Atem. Auf dem Wasser war trotzdem ein feines Abbild der Seele ihres Bruders zu sehen. Im Zentrum der Lichtung bildete sich ebenfalls seine Silhouette heraus, dann erschien an der Baumgrenze der schimmernde Umriss eines weiteren Zentauren und noch einer und noch einer.
Gute Göttin! Sie sind alle Bregon!
In jeder seiner Erscheinungen war sein Körper beinahe vollständig transparent. Sie konnte seine Form undeutlich erkennen, wenn sie sich auf die silbrig glitzernde Umrandung konzentrierte. Sämtliche Geister ihres Bruders sahen zu demjenigen, der neben dem Becken stand und am deutlichsten ausgeprägt war. Er hielt den Kopf gesenkt, fischte den Kelch aus dem Wasser und stellte ihn ehrerbietig zurück auf den Beckenrand. Er schaute von seinem Spiegelbild auf und sah ihr direkt in die Augen. Über sein geisterhaftes Gesicht strömten Tränen.
Dann verschwand er und mit ihm die anderen.
Brighid war gerade Zeugin davon geworden, wie ihr Bruder aus Eponas Kelch getrunken hatte. Er war jetzt ein Hoher Schamane – dessen war sie sich sicher. So sicher, wie sie wusste, dass das, was sie im Becken gespiegelt gesehen hatte, das Zersplittern seiner Seele gewesen war. Plötzliche Traurigkeit überschattete die Sorge, die sie sich um ihre Herde machte. Bregon hatte so viel von seiner Seele zurückgelassen! Cu hatte nur unter dem Verlust eines einzelnen Seelenteils gelitten, und das hatte ihn zu einer bedauernswerten Hülle seiner selbst gemacht. Er war so aller Freude beraubt und hoffnungslos gewesen, dass er daran gedacht hatte, sein Leben zu beenden. Sie konnte sich kaum vorstellen, was jetzt in ihrem Bruder vorging. Wie sollte er so zersplittert überleben?
Sie seufzte und ließ die Finger erneut durch das lebendige Wasser gleiten. Es war alles so falsch. Wie war es möglich, dass das Gift einer Frau noch lange nach ihrem Tod die nächste Generation zerstörte?
„Du bist spät dran, Schwester.“
Brighid keuchte erschrocken auf und wirbelte herum. Ihr Bruder stand vor ihr. Nicht die traurigen, zerbrochenen Fragmente, die sie gerade bedauert hatte. Nein, dieser Zentaur strahlte Macht aus – eine Macht, von der sie bislang noch nicht hatte kosten dürfen.
46. KAPITEL
B righid legte sich den Mantel aus kühler Distanziertheit um, den sie den Großteil ihres Lebens getragen hatte. Ihr Lächeln war höflich und desinteressiert.
„Hallo Bregon.“
Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Hör auf, mir etwas vorzuspielen, und geh, Schwester. Es gibt keinen Grund für dich, aus Eponas Kelch zu trinken. Du hast einen anderen Weg für dein Leben gewählt. Unsere Mutter war zufrieden mit deiner Wahl. Ich bin zufrieden mit deiner Wahl. Geh zurück in den Wald der Menschen, die du so liebst. Unsere Herde braucht dich nicht.“
„Unsere Mutter war eine traurige, verdrehte Zentaurin, deren Machtgelüste dazu geführt haben, dass sie niemals mit etwas zufrieden war, Bregon. Der Tag, an dem du das akzeptierst, ist der Tag, an dem du frei sein wirst von ihrer Bevormundung.“
„Also weißt du, dass sie tot ist.“
„Ja, ich weiß es. Niam hat es mir erzählt.“
Bei der Erwähnung seiner Schwester verzogen sich Bregons Lippen zu einem höhnischen Grinsen.
„Sie ist gestorben in dem Versuch, mir die Nachricht zu überbringen“, fuhr Brighid fort.
Der hochmütige Ausdruck schwand von seinem Gesicht. „Niam? Sie ist tot?“
„Unsere Schwester hat sich zu Tode gelaufen. Den Hass zu beenden, den unsere Mutter gesät hat, war ihr wichtiger als ihr eigenes Leben.“
Bregon wischte sich über die Augen. Als er wieder aufschaute, bekam Brighid den ersten wahren Einblick in diesen eisenharten Fremden, zu dem ihr Bruder geworden war.
„Niam war schon immer dumm und schwach. So hat sie gelebt, und so ist sie gestorben.“
„Es ist weder dumm noch schwach, sein Leben für jemand anderen zu geben“, widersprach sie.
„Doch, das ist es, wenn dein oh so tapferer Einsatz umsonst war.“
„Sieh dich um, Bregon. Ihretwegen bin ich jetzt hier.“ Ihre Stimme wurde eindringlicher, als sie ihm entgegenschleuderte: „Nur wegen Niam werde ich aus Eponas Kelch trinken. Und um Niams willen kehre ich auf die Ebene der Zentauren zurück und übernehme die Position, die mir per Geburtsrecht zusteht – ich werde Hohe Schamanin der
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