Beseelt
tropfender Eiszapfen wird. Erst ist es nur ein kleiner, harmloser Kälteschauer, aber allmählich, während der Winter der Trauer fortschreitet, gefriert Lage um Lage der Tropfen zu zerstörerischem Schmerz.“ Ciara richtete sich auf und drehte ihre Hände, sodass die Handflächen in einer Geste der Offenheit und des Flehens nach oben zeigten. „Stellt mich auf die Probe, Jägerin. Ich weiß, Ihr habt die Fähigkeit, jegliche Falschheit in meinen Worten zu entdecken. Ich heiße Euren kritischen Blick willkommen.“
Brighid ignorierte Cuchulainn, der sie musterte. Er betrachtete sie mit einer Mischung aus Überraschung und Widerwillen. Sie atmete tief ein und konzentrierte ihre fein ausgebildeten Beobachtungssinne auf die geflügelte Frau – Sinne, die, wie Ciara richtig vermutete, wegen des reichen schamanischen Erbes in ihrem Blut geschärft waren. Wie beim Aufspüren von Beute für ihren Clan roch die Jägerin mehr als andere. Sie atmete die spirituelle Essenz dessen ein, was sie suchte. Was sie hier in diesem Langhaus erspüren wollte, waren die dunklen Spuren, die vom Bösen und von Lügen hinterlassen wurden.
Ciara saß still und ernst da und ließ es ruhig über sich ergehen, dass Brighid ihren Geist abtastete, um zu sehen, was darin vor sich ging.
„Ihr verbergt nichts vor uns“, sagte sie schließlich.
Ciaras Lächeln wurde sofort wieder strahlend. „Nein, Jägerin, ich verberge nichts vor Euch. Wenn es Euch beruhigt, lade ich Euch gerne ein, gemeinsam mit mir eine spirituelle Reise in die Oberwelt anzutreten, damit ich vor Epona selbst schwören kann, die Wahrheit zu sagen.“
Brighid spürte, wie eine kalte Faust sich um ihr Herz schloss. Ihre angeborenen Kräfte zu nutzen, um ihren Clan zu ernähren oder die Wahrheit über Ciara herauszufinden und somit den MacCallan-Clan zu beschützen, war eine Sache. Das war für sie nicht anders, als das Herz eines eleganten Hirschbocks mit dem Pfeil zu durchbohren. Es war nicht angenehm, aber es musste getan werden, um die Aufgabe zu erfüllen, die sie sich in ihrem Leben gestellt hatte. Doch niemals würde sie sich auf eine spirituelle Reise begeben. Sie wusste nur zu gut, auf wen sie dort träfe.
„Nein“, sagte sie ein wenig zu schnell. „Das wird nicht nötig sein, Ciara.“
„Ihr habt die Kraft in Euch und nutzt sie nicht für die Heilige Reise?“
„Nein. Ich bin eine Jägerin, keine Schamanin.“
Ciara öffnete den Mund, überlegte es sich dann jedoch anders und nickte. „Jeder von uns muss seinen eigenen Weg finden.“
Cuchulainn stand so abrupt auf, dass er beinahe die Bank umgeworfen hätte. „Es ist an der Zeit, mich für die Nacht zurückzuziehen.“
Ciara versuchte erst gar nicht, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Aber bald beginnen wir doch mit dem Geschichtenerzählen. Die Kinder werden nach dir fragen.“
„Nicht heute Abend“, sagte er knapp.
„Ich muss Euch ebenfalls um Verständnis dafür bitten, dass ich mich zurückziehen möchte. Meine Reise hierher war sehr lang und anstrengend.“ Brighid erhob sich und ging um den Tisch herum, um sich neben Cuchulainn zu stellen.
Ciaras Enttäuschung wich einem Ausdruck des Verstehens. „Natürlich. Schlaft gut, Brighid.“
Bevor sie sich zum Gehen wandten, sagte er angespannt: „Morgen möchte ich den Pass erkunden. Ich denke, er sollte inzwischen so frei sein, dass wir uns bald auf die Reise machen können.“
„Das ist eine hervorragende Idee. Ich werde alles vorbereiten, damit ich dich begleiten kann“, sagte Ciara.
Cuchulainn stieß einen undefinierbaren Laut aus. Ohne zu warten, ging er forschen Schrittes zur Tür und überließ es ihr, den enttäuschten Kindern entschuldigend zuzuwinken.
Überall in der Siedlung standen brennende Fackeln, und Brighid brauchte nicht lange, bis sie Cuchulainn erblickte, der mit gebeugten Schultern schnell zwischen den Hütten entlangeilte. Sie holte ihn problemlos ein.
„Du hast schamanische Kräfte“, sagte er, ohne sie anzuschauen.
„Ja. Auch wenn ich mich entschieden habe, es nicht zu tun, besitze ich die Fähigkeit, die Heilige Reise anzutreten und mit dem Reich der Spiritualität zu kommunizieren. Es liegt mir im Blut.“ Sie hielt inne und betrachtete seine versteinerte Miene. „Von meiner Mutter. Sie ist Mairearad Dhianna.“
Bei diesen Worten blieb er unvermittelt stehen. „Du bist die Tochter der Hohen Schamanin der Dhianna-Herde?“
„Ja, die bin ich.“
„Welche Tochter?“
Brighid bemühte sich um einen
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