Beseelt
neugieriger Augen.
Die Dunkelheit war komplett hereingebrochen, als die Wachen das schwere Tor zur Wachtburg öffneten. Eifrige Hände erlösten sie vom Rehbock, während die Menschen ihr überschwänglich dankten. Brighid nahm die Dankbarkeit mit leichtem Unbehagen entgegen. Das erinnerte sie nur noch mehr an den traurigen Zustand, in dem ihre Jägerschwester die Burg zurückgelassen hatte. Ihre Mutter sollte sich um die Angewohnheiten fehlgeleiteter Zentauren kümmern, anstatt ihre Zeit und Energie auf ihre launische Tochter zu vergeuden.
Überrascht runzelte sie die Stirn. Sie war nicht launisch. Bei der Göttin, warum war ihr Verlassen der Herde so ein allumfassendes Thema? Es war Tradition in der Dhianna-Herde, dass die älteste Tochter der Hohen Schamanin ihrer Mutter als Führerin der Herde nachfolgte. Doch das passierte nicht immer. Es hatte Zeiten gegeben, in denen die Hohe Schamanin keine Tochter gebar, oder sie starb, ohne einen Erben zu haben. Warum konnte ihre Mutter nicht sehen, dass auch ihre Nachfolge sich in diese Ereignisse einreihte?
Es war nicht so, dass Brighid keine Geschwister hätte. Gut, ihre Schwester zeigte wenig vielversprechende Eigenschaften als Führerin. Niam war golden gefärbt, wunderschön und immer glücklich, weil ihr Gehirn absolut leer war. Blieb noch ihr Bruder Bregon. Sein größter Wunsch ginge in Erfüllung, dürfte er seiner Mutter als Hoher Schamane folgen. Es war nicht verboten, dass männliche Zentauren Hohe Schamanen wurden. Die Position des Hohen Schamanen von Partholon hatte immer ein Mann inne. Er war der Zentaur, der mit Eponas Auserwählter gepaart wurde und an ihrer Seite die Geschicke des Landes lenkte. Bregon würde die Macht, die mit der Position des Hohen Schamanen der Dhianna-Herde einherging, mit offenen Armen willkommen heißen. Vielleicht würde er sogar glauben, dann endlich das errungen zu haben, wonach er sich sein Leben lang sehnte – die Liebe seiner Mutter.
Sie runzelte die Stirn. An ihren jüngeren Bruder zu denken verursachte ihr Kopfschmerzen. Sie hatten sich nie nahegestanden. Oder zumindest nicht mehr, seit …
„Brighid! Gut, du bist gerade rechtzeitig zum Abendessen zurück.“
Die Jägerin straffte die Schultern und ließ sich von Ciara in den Innenhof führen.
Eine weitere verdammte Schamanin … eine weitere verdammte spionierende, sich einmischende …
„Ich habe nach dir Ausschau gehalten und dir einen Platz am Lagerfeuer freigehalten.“ Ciara sah sie prüfend an. „Stimmt etwas nicht? Du siehst …“
„Nein! Alles ist gut.“ Brighid entspannte ihre Gesichtsmuskeln und lächelte die Schamanin an. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Mutter die wachsende Freundschaft zu Ciara vergiftete. Ciara spionierte nicht, sie war besorgt. „Ich bin allerdings hungrig. Danke, dass du nach mir geschaut hast.“
Sie betraten den großen, rechteckigen Innenhof – und Brighids gespieltes Lächeln wurde ein echtes. Die Zelte waren in einem einladenden Kreis aufgebaut, doch sie standen nicht so eng beieinander wie im Ödland. Hier schützten die Burgmauern sie vor dem beißenden Nachtwind. Kinder saßen überall verteilt und sprachen zwischen Bissen dampfenden Eintopfs und knusprigen Brots angeregt mit den Kriegern.
„Also haben die Krieger sich bei Anbruch der Nacht nicht zurückgezogen“, sagte sie.
„Oh nein.“ Ciara lachte sanft. „Es scheint, die großen Krieger der Wachtburg sind als Geiseln genommen worden.“
„Geiseln?“
„Ja, Geiseln der Neugierde.“
Brighid schnaubte. „Oder sie werden langsam zu Tode gequatscht und haben bereits ihre Fähigkeit zu fliehen verloren.“
Ciara lachte wieder. „Das meinst du nicht so.“
„Oh doch. Du hast keine Ahnung, wie gefährlich Kinderstimmen für den Uneingeweihten sein können.“
„Du meinst, eine von ihnen könnte sogar eine zentaurische Jägerin dazu überreden, einen Lehrling anzunehmen?“ Ciara bedachte sie mit einem wissenden Lächeln.
„Das ist genau, was ich meine.“
Die Schamanin berührte sie sanft am Arm. „Liam liegt bequem und ruhig auf der Krankenstation der Burg. Nara wird die Nacht über bei ihm bleiben. Sie hat mir versichert, dass er morgen früh mit uns aufbrechen kann, allerdings nur auf einer Trage.“
„Danke. Ich …“ Brighid hielt inne und schluckte, weil sie mit einem Mal einen Kloß im Hals hatte. „Ich stelle fest, dass ich eine gewisse Zuneigung zu dem Jungen entwickle.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was mit mir
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