Bestialisch
gebunden.«
Nautilus zog eine Augenbraue hoch. »Warum sollte eine renommierte Spezialistin wie Dr. Prowse Patienten annehmen, die ein gestörtes Verhältnis zu ihren Geschwistern haben oder unter Panikattacken leiden?«
»Sie sprechen von ganz normalen Störungen? Nein, mit derlei Fällen beschäftigte sie sich nicht. Falls Dr. Prowse jemanden als Privatpatienten angenommen hätte, dann nur einen Fall, der sie beruflich herausfordert.«
»Na, hier drinnen dürfte doch fast jeder Fall ›interessant‹ sein«, vermutete Nautilus. »Beispielsweise Jeremy Ridgecliff.«
Traynor nickte. »Ein Junge ermordet seinen Vater, nachdem dieser ihn jahrelang physisch und psychisch misshandelt hat. Ich würde es nicht als höchst ungewöhnlich bezeichnen, wenn so ein Junge irgendwann an seine Grenzen stößt und Rache nimmt. Ungewöhnlich war jedoch, dass sich der Zorn auf die sich abkapselnde Mutter verlagerte oder – besser gesagt – auf Substitute. Und selbstverständlich auch die überbordende physische Gewalt, die seinen Opfern zugefügt wurde. Unglücklicherweise …« Traynor zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf.
»Sprechen Sie doch weiter, Doktor.«
»Dr. Prowse ist es nicht gelungen, Ridgecliff zu bewegen, sich wirklich zu öffnen. Sie fand Mittel und Wege, dass er ruhiger wurde und mehr in der Wirklichkeit lebte, was schon ein Riesenerfolg ist, aber was der Auslöser war, hat sie nie erfahren.«
»Auslöser?«
»Entschuldigen Sie … unter Auslöser verstehen Dr. Prowse und ich das wahre Motiv, das ihn zum Töten veranlasst hat. Einer von unseren Kollegen spricht auch gern von dem Tunken, der das Feuer entfacht‹.«
»Ich dachte immer, die Misshandlungen wären die Ursache.«
»In diesem Fall war das eine unumstößliche Tatsache. Unter Auslöser verstehen wir, wie der Patient dies in sein eigenes Wertesystem einbaut. Wie diese Realität wahrgenommen, gedeutet wird und – wie in Jeremy Ridgecliffs Fall – warum sich der Impuls, Frauen zu töten, herausbildet.« Traynor hob die Augenbraue und fuhr mit einem Anflug von Herablassung in der Stimme fort: »Für einen Laien mag dieses Konzept schwer verständlich sein. Ein gewalttätiger Säufer schlägt seine drei Söhne. Ein Sohn deutet die Züchtigung als Kontaktaufnahme, als deformiertes Zeichen seiner Liebe, und schafft es, die Liebe seines Vaters zu erwidern. Der zweite Sohn interpretiert die Prügel als Hass und reagiert dementsprechend. Der dritte Sohn …« Traynor brach ab, stützte das Kinn auf die Finger und versuchte, ein passendes Beispiel zu finden.
»Der dritte Sohn«, sagte Nautilus, »könnte die Sache vollkommen anders einschätzen und das Leid als Botschaft von Gott, Allah oder einer anderen höheren Macht ansehen, als Zeichen, dass er ein Auserwählter und das Leid ein notwendiges Übel ist.«
Traynor blickte zu Nautilus hinüber, als sähe er ihn zum ersten Mal.
»Ganz genau, Detective. Aber Dr. Prowse ist nie dahintergekommen, wie Jeremy Ridgecliffs Interpretation lautete. Wahrscheinlich war er sich darüber im Klaren, dass sie ihm genau dieses Geheimnis entlocken wollte. Manchmal haben die beiden das Thema beinah spielerisch umkreist.«
»Spielerisch?«
»Beide waren sich dessen bewusst, dass dies ein ernstes Thema war, doch Jeremy Ridgecliff spielte dieses Versteckspiel schon sein ganzes Leben lang und ließ sich nicht in die Karten schauen.«
»Dann haben die beiden also, ähm, miteinander Katz und Maus gespielt. Könnte man es so formulieren?«
»Ridgecliff konnte ziemlich bösartig sein und dann wieder überaus charmant, wenn ihm der Sinn danach stand. Beinahe liebenswert. Wenn man seine Geschichte nicht kannte.«
Liebenswert. Das Wort geisterte Nautilus im Kopf herum. Dr. Evangeline Prowse war mit seinem Partner befreundet. Und wenn man Carson etwas vorwerfen konnte, dann den Umstand, dass er denen, die ihm nahestanden, Fehler nachsah. Nautilus kniff die Augen etwas zusammen, musterte den nervösen Traynor und entschied, ihm etwas Feuer unter dem Allerwertesten zu machen.
»Erzählen Sie mir, was man unter Übertragung versteht, Doktor.«
Traynor runzelte die Stirn. »Dr. Prowse würde eine Übertragung niemals zulassen.«
»Die Übertragung romantischer Gefühle vom Patienten auf den Therapeuten … alle möglichen Patienten verlieben sich in ihre Therapeuten. Und manchmal passiert es auch umgekehrt, oder? Der Arzt verliebt sich in den Patienten.«
Die Stirn des Psychiaters färbte sich rot vor Wut.
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