Bestien
ihrem letzten
Besuch nichts geändert.
Dieselben bequemen Sofas und Sessel waren in Gruppen auf
dem polierten Hartholzboden angeordnet, und in dem gewaltigen Kamin brannte ein Feuer. Auf einem langen, von zwei
Sofas eingefaßten Kaffeetisch lagen ein paar Zeitschriften.
Rocky Mountain High glich einem Wintersporthotel in der
Vorsaison.
Niemand war zu sehen.
Sie ging weiter in den Speiseraum, und ihre Absätze
klapperten laut auf dem harten Boden, dann bog sie nach links
in den Korridor, der zu Martin Ames’ Büro führte. Das Gefühl,
daß sie beobachtet und jede ihrer Bewegungen genau
überwacht wurde, wurde unabweisbar. Zweimal ertappte sie
sich dabei, daß sie über die Schulter sah und erwartete,
jemanden hinter sich zu sehen, der leise herankam, bereit, sie
zu ergreifen.
Aber der Korridor blieb leer, und dann stand sie vor der
verschlossenen Tür zu Ames’ Büro. Sie zögerte einen Moment,
dann drückte sie die Klinke, ohne anzuklopfen.
Sie stieß die Tür auf.
Marjorie Jackson blickte vom Telefon auf. Als sie Sharon
erkannte, kam ein überraschter Ausdruck in ihre Augen. Sie
hörte auf zu wählen und legte den Hörer wieder aus der Hand.
»Nun«, rief sie ein wenig zu munter aus, »dann kann ich den
Versuch, Sie zu erreichen, ja aufgeben, nicht?«
Das war das letzte, was Sharon zu hören erwartet hatte.
Verblüfft starrte sie Ames’ Assistentin an. »Sie – Sie haben
versucht, mich zu erreichen?«
Die andere machte ein mitfühlendes Gesicht. »Sie müssen
bereits gehört haben, was mit Mark geschehen ist«, sagte sie.
Sharon faßte sich und nickte knapp. »Ich will ihn sehen«,
sagte sie. »Und ich will wissen, warum er hierhergebracht
wurde.«
Das Lächeln verblaßte auf Marjorie Jacksons Lippen, und
sie furchte sorgenvoll die Stirn. »Ach du liebe Zeit«, sagte sie.
»Ich – ich bin nicht sicher, daß Sie Mark jetzt sehen können.
Ich glaube, Dr. Ames hat ihn gerade in Behandlung. Ich werde
mich erkundigen …« Sie griff wieder zum Telefon, aber
Sharon hob abwehrend die Hand.
»Was für eine Behandlung?« verlangte sie zu wissen. »Niemand hier hat das Recht, meinen Sohn ohne meine Erlaubnis
zu behandeln. Die Schule hatte kein Recht, ihn hierherzuschicken, und Sie haben kein Recht, ihn zu behandeln.«
Marjorie Jackson schien vor dem kalten Zorn in Sharons
Stimme zu erschrecken. »Mrs. Tanner – ich weiß nicht, was ich
sagen soll. Vielleicht ist ein Fehler passiert.«
»Der einzige Fehler war«, sagte Sharon mit zornigem
Nachdruck, »daß mein Mann einwilligte, unseren Jungen dem
auszuliefern, was hier vorgeht, was immer es ist.«
»Aber er ist krank, Mrs. Tanner«, fing Ames’ Assistentin
wieder an. Sie leckte sich nervös die Lippen. »Wir versuchen
bloß, ihm zu helfen.«
»Glauben Sie das wirklich?« fuhr Sharon auf. Sie funkelte
die Frau an. »Nun, dann will ich Ihnen sagen, daß Mark
vollkommen gesund und normal war, bis er hier in Behandlung
genommen wurde. Also, wo ist er?« fragte sie mit erhobener
Stimme, beugte sich über den Schreibtisch der Assistentin und
stützte sich mit beiden Händen darauf. »Ich will meinen Sohn
sehen«, wiederholte sie. »Und zwar sofort! Haben Sie mich
verstanden?«
Marjorie Jacksons Verhalten änderte sich. Ihr mitfühlender
Ausdruck gerann zu kühler Amtlichkeit. Sie stand auf. »Ich
verstehe, daß Sie aufgeregt sind«, sagte sie in strengem Ton.
»Und Sie haben ein Recht, es zu sein. Wenn mein Sohn krank
wäre, würde ich auch aufgeregt sein. Aber Sie haben nicht das
Recht, hier hereinzustürmen und Forderungen zu stellen, denen
nachzukommen unmöglich ist. Wir versuchen Ihrem Sohn zu
helfen – auf Bitten Ihres Mannes –, und wenn Sie sich beruhigen wollen, wird Dr. Ames sicherlich in der Lage sein, alles zu
Ihrer Zufriedenheit zu erklären. Aber er kann sich nicht gleichzeitig um Sie und um Mark kümmern. Also schlage ich vor,
daß Sie sich jetzt entscheiden, was Ihnen wichtiger ist – die
Beantwortung Ihrer Fragen oder die Behandlung Ihres
Sohnes?«
Sharon richtete sich auf und trat einen Schritt zurück. Der
Tonfall und die Worte der anderen hatten den Panzer ihrer
Empörung durchstoßen. Plötzlich fühlte sie sich unsicher. Wie,
wenn sie sich irrte?
Als sie dastand, die Sekretärin anstarrte und versuchte, die
Aufrichtigkeit ihrer Worte zu beurteilen, wurde die eingetretene Stille von einem entfernten Schrei unterbrochen.
Sharon versteifte sich.
Und dann kam er wieder, diesmal lauter.
Wie ein wildes Tier, das in die Nacht heulte.
Sharon
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