Bestien
noch einmal mit einem
blauen Auge davongekommen. Hat man Jeff schon gefunden?«
Charlotte schluckte den Klumpen in ihrer Kehle hinunter
und nickte. »Sie brachten ihn zu Dr. Ames hinaus«, sagte sie.
»Er … Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist, Mrs. Tanner.«
»Sharon«, sagte die andere Frau.
»Sharon«, wiederholte Charlotte mit sorgfältiger Betonung.
»Ich vermute, es war wie an dem Abend, als er mich schlug«,
sagte sie. »Es ist sein Jähzorn. Er kann sich einfach nicht mehr
beherrschen. Irgend etwas geht ihm gegen den Strich, und er
explodiert.« Sie runzelte die Stirn, als eine Erinnerung wachgerufen wurde. »Wie Randy Stevens«, fuhr sie in nachdenklichem Ton fort. »Er ist wie Randy, bevor sie ihn abholten …«
Sharon starrte sie an. Wer war Randy Stevens? Sie hatte den
Namen nie im Leben gehört.
Chuck LaConner starrte Dr. Martin Ames mit dumpfem Ausdruck an. Sie saßen seit dreißig Minuten in Ames’ Büro in der
Sportmedizinischen Klinik, wo Ames den viele Male
eingeübten Vortrag gehalten hatte, einen Vortrag, der sorgfältig
darauf abgestimmt war, seinen und Ted Thorntons Zielen zu
dienen und gleichzeitig den Gesprächspartner zu beruhigen.
»Natürlich kommt eine Entlassung derzeit nicht in Frage«,
hatte Ames abschließend erklärt und die Hände in einer
Gebärde ausgebreitet, die seine Machtlosigkeit angesichts
höherer Gewalt suggerierte. »Wir werden unser möglichstes
tun, das chemische Ungleichgewicht in seinem Gehirn
abzubauen, aber es gibt keine Gewißheit, daß wirksame
Abhilfe geschaffen werden kann.«
Es dauerte eine Weile, bis die Tragweite dieser Erklärung in
Chucks Bewußtsein eingedrungen war, aber nun richtete er
sich in seinem Sessel auf und protestierte: »Aber Sie sagten,
nichts könne schiefgehen. Als ich einwilligte, Jeff in das
Programm aufzunehmen, versprachen Sie mir …«
»Ich versprach Ihnen nichts«, unterbrach ihn Ames. »Ich
sagte Ihnen, wir könnten mit neunundneunzigprozentiger
Gewißheit davon ausgehen, daß die Behandlung wirkungsvoll
und ungefährlich sein würde, daß es aber immer die Möglichkeit von Nebenwirkungen gebe. Und Sie verstanden, daß die
Behandlung noch immer einige …« Er suchte nach dem
richtigen Ausdruck. »… sagen wir, experimentelle Aspekte
hat.«
Chuck stützte den Kopf in die Hände. Es stimmte natürlich.
Er erinnerte sich des Tages vor drei Jahren, als er zum ersten
Mal mit Ames gesprochen hatte. Ames hatte ihm versichert, es
bestünden gute Aussichten, daß Jeff den Geburtsfehler
überwinden würde. Nicht, daß Jeff zu klein gewesen wäre –
seine Größe war schon damals völlig normal gewesen. Aber
seinen Knochen war eine Sprödigkeit eigen, die ihn zum
Invaliden zu machen drohte, und das von frühester Kindheit an.
Bei seinen ersten Gehversuchen hatte er sich ein Bein
gebrochen, und während seiner ganzen Kindheit und Jugend
hatte er so gut wie immer an dem einen oder dem anderen
Körperteil einen Gipsverband getragen. Keiner der Ärzte, die
von den LaConners zu Rate gezogen worden waren, hatten
ihnen Hoffnung machen können. So hatte Chuck sofort
eingewilligt, den Versuch zu machen, als Jerry Harris ihm von
Dr. Ames’ Programm erzählt hatte – einem neuen Verfahren
der Kombination von Vitaminen mit einem Hormon, das die
Kalziumerzeugung des Körpers stimulieren würde. Das
Schlimmste, was geschehen könnte, würde die Unwirksamkeit
der Therapie sein.
Aber sie hatte sich als wirksam erwiesen. Innerhalb eines
Monats hatte eine nahezu wunderbare Kräftigung von Jeffs
Skelettstruktur eingesetzt. Er hatte einen Wachstumsschub
erlebt, und sogar während dieser gefährlichen Zeit, als er zu
seiner vollen Größe heranwuchs und sich sportlich auf
verschiedenen Gebieten engagiert hatte, war kein neuer
Knochenbruch eingetreten. Tatsächlich hatte sein Skelett – das
in den Röntgenaufnahmen, die Chuck von Anfang an gezeigt
worden waren, immer so zerbrechlich ausgesehen hatte – eine
solide Festigkeit angenommen. Die langen Knochen hatten sich
deutlich verstärkt und Jeff zusätzliches Gewicht und eine
Robustheit verliehen, die er nie zuvor besessen hatte. Seine
Schultern, immer so schmal, als er ein kleiner Junge gewesen
war, hatten sich von seinem vierzehnten Jahr an verbreitert,
und Ames hatte ihm gleichzeitig mit der Vitamin-HormonTherapie ein Übungsprogramm verschrieben.
Bis vor ein paar Wochen hatte es keinerlei Grund zu der
Vermutung gegeben, daß die Behandlung kein voller Erfolg
sei. Aber nun …
Chuck
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