Bestien
unter
Schreckensbildern, denen er nicht entkommen konnte? Oder
war er einfach irgendwo in einem grauen Nichts verloren,
losgelöst von aller Realität, aller Vorgänge um ihn nicht
bewußt? Sie wußte es nicht, konnte es nicht wissen.
Vielleicht konnte es niemand jemals wissen.
»Mrs. Tanner?« fragte Karen Akers leise Stimme von der
Tür hinter ihr. »Ist etwas?«
Sharon wandte sich um, trat hinaus in den Korridor und
blinzelte in seine Helligkeit. »Ich – ich wollte ihn bloß sehen«,
sagte sie mit unsicherer Stimme. »Es ist so schrecklich.«
»Und es hätte Ihr Sohn sein können«, sagte Karen Akers
und sprach damit den Gedanken aus, der kurz zuvor Sharons
Vorstellung beherrscht hatte. »Aber Rick ist nicht Ihr Sohn,
Mrs. Tanner. Und Mark wird es gut überstehen.«
Sharon nickte, dann zwang sie sich zu einem winzigen
Lächeln und nahm dankbar die Tasse dampfenden Kaffees aus
den Händen der Nachtschwester. »Das ist mein Trost«, sagte
sie. Sie trug die Kaffeetasse in Marks Krankenzimmer und
setzte die Nachtwache an seinem Bett fort. Doch als die
Minuten verrannen, stellten sich wieder die Gedanken an
Ricardo Ramirez ein.
Sie wußte von Blake, was Tarrentech für den Jungen tat,
und bis jetzt war ihr nie in den Sinn gekommen, die Großzügigkeit und Aufrichtigkeit des Unternehmens in Frage zu
stellen. Erst jetzt, in der erzwungenen Untätigkeit der langsam
vertickenden Minuten, begann sie darüber zu grübeln.
Ihre Erinnerung ging zurück zu den Footballspielen, die sie
in den vergangenen Wochen und Monaten gesehen hatte, und
vor ihrem inneren Auge trabte die Schulmannschaft wie eine
Truppe von Gladiatoren auf das Spielfeld.
Es waren große Burschen, allesamt, und nun kam ihr in
Erinnerung, daß ihr vor jedem Spielbeginn der Gedanke durch
den Kopf gegangen war, wie ungleich die gegnerischen
Mannschaften wirkten. Die Jungen aus Silverdale waren groß
und kräftig wie ausgewachsene Männer, überragten ihre
Gegner und überwältigten sie schon durch die schiere Gewalt
ihrer Größe und ihres Gewichts.
Außerdem spielten sie hart. Ganz gleich, wie viele Punkte
Vorsprung sie hatten, sie ließen niemals nach, hörten niemals
auf, den Gegner unter Druck zu halten, spielten niemals auf
Zeit, um die letzten Minuten bis zum Abpfiff weniger schweißtreibend zu verbringen.
Ein Frösteln überlief sie in der Dunkelheit des
Krankenzimmers, als sie darüber nachdachte.
Große, starke, gesunde Burschen.
Und anscheinend auch gefährliche Burschen.
Wenn Tarrentech wirklich glaubte, daß Ricardo Ramirez
Opfer eines Unfalls gewesen war, warum dann die Bereitschaft, jeden Preis zu zahlen, um eine Schadenersatzklage
gegen die Schule oder gegen die LaConners abzuwenden?
War der tiefere Grund der, daß ein Gerichtsverfahren sich
schließlich gegen Tarrentech selbst wenden könnte?
Auf einmal fürchtete sich Sharon Tanner mehr als je zuvor
in ihrem Leben.
Chuck LaConner versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als
er Dr. Ames am Telefon zuhörte. Ihm gegenüber saß Charlotte
steif aufgerichtet im Sessel auf der anderen Seite des Kamins,
und obwohl das Feuer einen orangefarbenen Widerschein auf
ihr Gesicht legte, war nicht zu übersehen, daß sie totenbleich
geworden war. Als er endlich auflegte, ließ sie ihm keine
Sekunde zum Überlegen.
»Was ist los?« verlangte sie zu wissen. »Das ging um Jeff,
nicht wahr? Ist er im Gefängnis?«
Auf Dr. Ames’ Anregung hin war Chuck sorgsam bemüht
gewesen, nicht zu enthüllen, mit wem er sprach, und nun
schüttelte er den Kopf und stand gleichzeitig auf. »Er ist nicht
im Gefängnis«, sagte er. »Er hatte eine Art Zusammenbruch.
Anscheinend verlor er diesmal ganz die Beherrschung, und sie
brachten ihn zum Arzt.« Er ging hinaus zur Dielengarderobe,
Charlotte einen Schritt hinter sich.
»Ich gehe mit«, erklärte sie. Aber zu ihrer ungläubigen
Bestürzung schüttelte er den Kopf.
»Nicht jetzt«, sagte er. »Sie baten mich ausdrücklich, allein
hinauszukommen. Ich nehme an …«, sagte er, brach dann ab,
um nicht wiederholen zu müssen, was Ames ihm gesagt hatte.
»Es scheint ziemlich ernst zu sein«, sagte er nach einer Pause.
»Sie … nun, sie sagen, Jeff werde vielleicht eine Weile im
Krankenhaus bleiben müssen.«
Charlotte sackte gegen die Wand. »Und ich darf ihn nicht
einmal sehen?« flüsterte sie heiser. »Aber er ist mein Sohn!«
»Es ist nur für heute abend«, versprach er ihr. »Sie wollen
ihn bloß ein bißchen zur Ruhe bringen, das ist alles.« Er hob
die Hand und
Weitere Kostenlose Bücher