Bestien
berührte Charlottes Kinn nicht unfreundlich, hob
dabei ihren Kopf, so daß sie seinem Blick nicht ausweichen
konnte.
»Es wird sich schon wieder einrenken, Liebling«, sagte er.
»Wir werden diese Sache in Ordnung bringen. Aber du mußt
mir vertrauen. Verstehst du?«
Zu benommen, um klar zu denken, nickte Charlotte
mechanisch. Erst als sie eine Minute später Chucks Wagen
anspringen hörte, kam sie langsam wieder zu sich.
Seit Dick Kennally angerufen und gefragt hatte, ob Jeff zu
Hause sei, hatten sie und Chuck stundenlang am Kaminfeuer
gesessen. Zwischendurch war Chuck ins Krankenhaus gefahren
und war mit der beruhigenden Auskunft zurückgekehrt, daß es
Mark Tanner den Umständen entsprechend gut ginge, daß
seine Verletzungen nicht ernster Natur seien. Darauf hatte sie
selbst zum Krankenhaus gehen wollen, und wenn auch nur, um
sich bei Sharon Tanner zu entschuldigen, aber Chuck hatte es
nicht zugelassen. Und nun war er allein zum Krankenhaus
gefahren, während sie sich in der Sorge um ihren Sohn
verzehrte.
Aber sie konnte nicht länger warten. Jetzt war es nicht nur
Mark Tanner, der im Krankenhaus lag; auch Jeff war dort. Nur
fünf Minuten nach Chucks Weggang verließ sie eilig das Haus.
Zehn Minuten später hielt sie auf dem Parkplatz des
Bezirkskrankenhauses. Ohne sich die Zeit zu nehmen, nach
dem Wagen ihres Mannes Ausschau zu halten, eilte sie zum
Eingang und läutete die Nachtglocke. Karen Akers kam zur
Tür, öffnete Charlotte und ließ sie in den Warteraum ein.
»Warum darf ich ihn nicht sehen?« fragte Charlotte ohne
Vorrede. »Was fehlt ihm, daß ich ihn nicht sehen soll?«
Die Nachtschwester starrte sie verwirrt an. »Von wem
sprechen Sie?«
»Von meinem Sohn Jeff«, sagte Charlotte. »Mein Mann
sagte, sie hätten ihn zum Arzt gebracht …« Sie ließ den Satz in
der Luft hängen, als sie bemerkte, daß der Warteraum leer und
das Gebäude völlig still war. »Ist mein Mann nicht hier?«
fragte sie, wußte aber die Antwort, bevor Karen Akers sprach.
»Hier ist niemand, Mrs. LaConner, außer Mrs. Tanner. Sie
wacht bei ihrem Jungen.«
Müde und in hilfloser Verwirrung, sank Charlotte auf einen
der Kunstledersessel, die an einer Wand des Warteraumes
aufgereiht standen. Sie schwieg einen Moment, versuchte ihre
Gedanken zu sammeln. »Aber er sagte …«, fing sie in
verzweifeltem Ton an. Und dann wußte sie es. Sie hatten Jeff
überhaupt nicht hierhergebracht – sie hatten ihn zum Sportzentrum geschafft, zu Dr. Ames, genau wie letztes Mal, als Jeff
sie gegen die Wand geschleudert hatte und dann in die Nacht
hinausgestürmt war.
Irgendwie beruhigte sie der Gedanke. Schließlich war Jeff
schon am nächsten Tag nach Haus gekommen – war sogar
geradenwegs zur Schule gebracht worden. Und er war ganz in
Ordnung gewesen. Vielleicht hatte Chuck recht.
Sie kam sich einfältig vor, als sie zur Nachtschwester
aufblickte. »Ich weiß nicht, was los ist mit mir«, sagte sie, und
als sie den besorgten Blick in den Augen der anderen sah,
brachte sie ein lahmes Lächeln hervor. »Sicherlich muß Chuck
mir gesagt haben, wohin sie Jeff brachten. Nun, ich glaube, es
ist für uns alle keine leichte Nacht gewesen.«
Karen Akers Gesichtsausdruck hellte sich ein wenig auf.
»Wie geht es ihm?« fragte Charlotte. »Mark Tanner, meine
ich?«
Die Schwester zögerte, doch als sie die aufrichtige Sorge in
Charlottes Augen sah, nickte sie in die Richtung des Korridors.
»Er schläft jetzt. Aber wenn Sie einen Blick hineinwerfen
wollen, wird Mrs. Tanner wohl nichts dagegen haben.«
Charlotte stand auf und folgte ihr durch den Korridor.
Nachdem sie tief Luf geholt und sich Mut gemacht hatte,
öffnete sie vorsichtig die Tür zu Marks Krankenzimmer; ein
einziges kleines Nachtlicht warf einen matten Schein aus dem
Durchgang zum benachbarten Bad. Mark lag bewegungslos im
Bett, und auf dem Stuhl daneben war Sharon Tanner
eingenickt. Charlotte wollte sich eben zurückziehen, als Sharon
den Kopf hob und die Augen öffnete.
»Oh – hallo«, murmelte sie.
»Ich bin es«, sagte Charlotte. »Charlotte LaConner.«
Sie sah, wie Sharon Tanners Haltung sich unwillkürlich
versteifte, und bedauerte, daß sie hereingekommen war. Aber
dann stand die andere auf und kam auf sie zu. »Ich wollte nur
sehen, wie es ihm geht«, flüsterte Charlotte. »Und Ihnen sagen,
wie leid es mir tut …«
Sharon entdeckte zu ihrer Überraschung, daß sie Mitgefühl
empfand. Sie schob Charlotte in den Korridor hinaus, schloß
die Tür hinter sich und sagte: »Er ist
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