Beton
der Literatur, ja selbst mit der Philosophie. Wo andere sich fortwährend anzustrengen haben, um mitzuhalten, braucht sie sich überhaupt um nichts zu kümmern, es kommt alles, wie sie es will, ganz von selbst. Natürlich ist sie sozusagen gebildet, aber das alles ist doch nur oberflächlich, natürlich weiß sie sehr viel, mehr als die meisten, mit welchen sie verkehrt, aber doch nur auf das Oberflächlichste, aber niemand merkt das. Wo die andern fortwährend überzeugen müssen, um nicht unterzugehen und sich lächerlich zu machen und abzusacken,schweigt sie ganz einfach und trägt ihren Triumph davon, oder sagt etwas, das genau in dem richtigen Augenblick gesagt ist, woraus sich dann folgerichtig ergibt, daß sie die Szene beherrscht. Ich habe meine Schwester niemals in einer Niederlage gesehen. Umgekehrt hat sie sehr oft miterlebt, wie ich in irgendeinem ja tatsächlich lächerlichen Punkt versagt habe. Wir sind so verschiedene entgegengesetzte Charaktere wie nur denkbar. Wahrscheinlich beziehen wir gerade daraus unsere Spannung. Ich rede nie von Geld und habe es, sagte sie einmal, du redest nie von Philosophie und hast sie. Der Satz beweist, wo wir beide stehen und möglicherweise, wie ich fürchte, zum Stillstand gekommen sind. Überall im Haus sind noch die Spuren meiner Schwester, wohin immer mein Blick fällt, da war sie, das hat sie verrückt, das hat sie liegengelassen, dieses Fenster hat sie nicht so geschlossen, wie es sich gehörte, alle diese herumstehenden, nur halb ausgetrunkenen Gläser hat sie stehenlassen. Und ich denke nicht daran, alles das wieder in Ordnung zu bringen, was sie in Unordnung gebracht hat. Auf ihrem Bett fand ich, wie wütend hingeworfen, Combray von Proust, ich bin sicher, daß sie nicht weit gekommen ist. Aber ich kann auch nicht sagen, daß sie nichts oder nur das Minderwertigste liest, für eine Frau ihres Alters und ihres Standes und überhaupt ihrer Position und Veranlagung, bringt sie es immer wieder auf ein erstaunliches Niveau, was den Lesestoff betrifft. Wer diese Skizzen jemals lesen sollte, wird sich fragen, was dieses fortwährende Bohren meine Schwester betreffend, auf sich hat. Ja, weil mich meine Schwester ganz einfach beherrscht von Kindheit an und, ist sie abgereist, ich immer mehrere Tage brauche, um sie aufzuarbeiten, sie ist zwar physisch abgereist, aber doch überall auf die deutlichste und auf die für mich tatsächlich furchtbarste Weise vorhanden, vor allem war sie das an diesem letzten Abend, wie ich auf das schmerzhafteste fühlte und es mir durch ihre noch immer tatsächlich ungeheuere Anwesenheit gerade weil sie schon abgereist war, immer mehr zur Gewißheitgeworden ist, daß ich sie nicht in ein paar Stunden nach ihrer tatsächlichen Abreise aus dem Haus drängen kann, sie läßt sich nicht verdrängen, sie bleibt solange da, wie sie will und sie wollte es an diesem Abend mit ungeheuerer Intensität, weil ich sie aus dem Haus haben wollte, weil ich am andern Morgen mit meiner Arbeit über Mendelssohn Bartholdy anfangen wollte. Der Narr, der geglaubt hat, tatsächlich schon ein paar Stunden nachdem sie abgereist ist, mit dieser Arbeit anfangen zu können, völlig unvermittelt, bin ich ebenso tatsächlich. Ich habe immer mehrere Tage nach ihrer Abreise gebraucht, um mich von meiner Schwester zu befreien. Ich hoffte dieses eine Mal auf ein besonderes Glück. Aber ich hatte keines. Diese Art von Glück habe ich nie gehabt. Und hat sie nicht vielleicht recht, indem sie sagt, meine Arbeit über Mendelssohn Bartholdy ist nur eine Finte, um meinen absurden Lebenswandel zu rechtfertigen, der, außer daß er etwas schreibt und vollendet, keine andere Rechtfertigung hat. Ich stürzte mich auf Schönberg, um mich zu rechtfertigen, auf Reger, auf Joachim, ja sogar auf Bach, nur um mich zu rechtfertigen, wie ich mich jetzt auf Mendelssohn stürze zu demselben Zweck. Im Grunde habe ich überhaupt kein Anrecht auf meine Art von Lebenswandel, der tatsächlich so einmalig wie kostspielig und genauso fürchterlich ist. Andererseits, wem habe ich Rechenschaft abzugeben außer mir selbst? Wenn es mir nur wenigstens in den nächsten Tagen gelänge, mit meiner Mendelssohn-Bartholdy-Arbeit anzufangen. Habe ich denn die besten Voraussetzungen? Ich habe sie und ich habe sie nicht, einerseits habe ich sie, andererseits habe ich sie nicht, sagte ich mir. Wenn meine Schwester nicht hergekommen wäre, sagte ich mir, andererseits, gerade weil sie nach Peiskam gekommen ist. Wir
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