Betreutes Trinken
Krankenhaus gefahren hat und aus diesem Grunde zu spät zu seiner Probe kommt und, schlimmer noch, zu spät zum Essen?«
Ray schnieft: »Entschuldigung … Sir.«
Toddy nickt zufrieden und schlägt einen freundlicheren Ton gegenüber Ray an. Viel freundlicher: »Und übrigens – eure dritte Platte fand ich richtig super, also, da habt ihr echt ein Fass aufgemacht, da ging jeder Song direkt auf die Eier, also, ich könnte mir gut vorstellen, dass wir mal zusammen ein paar Konzerte machen.«
Ray ist zu sehr Profirockstar, als dass er sich über Toddys übergangslosen Wechsel vom Schleifer zum Superfan noch wundern würde, und liefert lässig die Standardantwort ab, die bei derartigen Anfragen fällig ist: »Ja, da solltet ihr euch mal mit unserer Booking-Agentur unterhalten, die regelt das. Schickt da eine CD hin, wer weiß …«
»Ey«, rufen die Zombies aus der Vorband geschlossen, um ihre Tournee-Pläne bangend, und während sich Ray noch geschmeichelt am Kinn kratzt, faucht Toddy sie an: »Ja Jungs, so ist das Business. Meine Band kann wenigstens aufrecht stehen – meistens.«
Dumpf grunzend trottet die Band auf das Plateau zu, das wir euphemistisch Bühne nennen. Marie findet diesen Aktionismus wegweisend und ruft: »Okay, dann lasse ich mal die Leute rein.« Sie klimpert mit dem Schlüsselbund und weckt so die übrigen Anwesenden aus der Fressnarkose.
»Oh mein Gott, keiner darf mich ohne Make-up sehen«, heult der Chipstütenvertilger und flüchtet hinter die Tür, die irgendein Scherzbold mal mit »Backstage« beschriftet hat. Noch bevor wir ihn warnen können, hören wir ein lautes Scheppern. Wieder mal hat ein Mann die Grenzen der Physik hautnah erfahren: Wenn man einen Spiegel in eine Besenkammer stellt, macht es den Raum zwar optisch größer, aber mehr Platz als vorher ist so nicht vorhanden. Hoffentlich isst er die Scherben nicht auf.
»Ey, Christoph, du Vollidiot, Backstage ist oben, weiß doch jeder!«, ruft Ray der geschlossenen Tür zu, schüttelt den Kopf, und grinst stolz. Marie hat ihm das echte Backstage im ersten Stock längst gezeigt, das erste Mal vor neun Jahren. Dann noch mal vor acht, sieben und sechs Jahren. Mittlerweile muss Marie nur noch nach oben zeigen, und Ray findet sein Nachtlager selbständig. Vielleicht sollte ich den Mann einfach in den Anker einladen, ihn kommentarlos in den Medienraum stellen, und die Jugendlichen würden niemals auch nur daran denken, etwas Härteres als einen Joint auszuprobieren.
Der Bassist ist der Besenkammer wieder entkommen, vorwurfsvoll murmelt er: »Da können wir unmöglich alle drin schlafen! Ihr müsst die Putzeimer da rausnehmen.«
Wenn ich den mit in den Anker brächte, würden die Jugendlichen niemals etwas Härteres als ihre Holunderbrause versuchen. Ray versetzt es in absolute Hochstimmung, dass sein Saitenschinder tatsächlich noch begriffsstutziger ist als er selbst, und schlägt ihm vor:
»Ach, Alter, das passt schon, müssen wir uns heute eben nach mageren Groupies umschauen – steh ich eh drauf.« Dabei mustert er mich von oben bis unten.
Noch bevor mir eine Abfuhr einfällt, die zwar geistreich, aber auch für Ray verständlich ist, unterbricht Toddy schon diesen plumpen Annährungsversuch:
»Ray, mein Freund, lass die Finger von der Braut. Die ist gefährlich. Ich kenne sie seit Jahren, aber ich hätte nicht mal gedacht, dass sie ein Ei braten könnte. Aber das hier …« Toddy streckt den Arm aus, dippt den gestreckten Zeigefinger in die kläglichen Saucenreste und leckt ihn ab. Wie ein Zollfahnder, der ganz hausbacken ermitteln will, ob es sich bei dem weißen Pulver, das der Verdächtige in verschweißten Klarsichttüten in ein Stofftier eingenäht hatte, auch wirklich um Kokain handelt, »… ist echt lecker. Wo hast du das gelernt, Doki?«
Ray, der Chipstütenmann und Toddy schauen mich erwartungsvoll an, ich lasse meine Blicke durch den Raum schweifen. Vielleicht hat ja jemand eine einleuchtende Erklärung für meine Kochkünste an die Wand geschrieben. Aber dort ist nichts Neues aufgetaucht, dafür fehlt etwas Altes: »Wo ist der Kicker?«
Immerhin ein gelungenes Ablenkungsmanöver. Toddy schaut perplex in die Ecke, in der ein auffällig sauberes Rechteck inmitten des schmutzigen Bodens aufleuchtet und tut, was er immer tut, wenn er heillos überfordert ist: »Raffi! Raphael! Jemand hat den Kicker geklaut! Aber es ist gar nicht meine Schicht, ich bin unschuldig. Raphael, Hilfe!«
»Genau, wo ist Raffi? Und
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