Betreutes Trinken
ein neues Bier. Nur Ludi steht mit verschränkten Armen da, murmelt: »Doki, ich bin sechzehn.«
»Unfug«, blaffe ich, »das wüsste ich ja wohl.«
Aber noch während ich das ausspreche, taucht vor meinem geistigen Auge ein Abreißkalender auf, mit dem heutigen Datum. Heute ist der 23. Mai. Da war doch irgendetwas. Abgesehen davon, dass ich noch sieben Monate Zeit habe, um Weihnachtsgeschenke einzukaufen.
Ludi sieht mich weiter an, unendliche Enttäuschung liegt in seinem Blick, Raffi begreift die Situation als Erster und schlägt vor: »Lokalrunde! Auf das Geburtstagskind!«
Das gefällt den Umstehenden, nur eine großgewachsene Spielverderberin muss die Freude noch einmal trüben: »Aber um zehn ist Schluss …«, mahnt sie noch leise, während sich der Tross zielsicher zur Kneipentür hinbewegt.
Alle folgen dem Big Spender Raffi, der sich kurzerhand Ludi auf die Schultern geladen hat und mit ihm durch die Eingangstür galoppiert. Aus dem Augenwinkel kann ich noch sehen, wie Marie sich an ihnen vorbeidrängt, um als Erste an ihre Theke zu gelangen. Ein paar Scheine, höchstwahrscheinlich die Wetteinnahmen, lugen neckisch aus ihrem Ausschnitt hervor.
Wie können erwachsene Menschen nur so verantwortungslos handeln?
Da muss doch irgendjemand eingreifen, jemand pädagogisch Geschultes sollte die Stimme erheben. Ich kann das nicht. Ich bin mit Schämen beschäftigt.
»Hey, für’s Protokoll: Ich habe nicht zu null verloren!«, ruft Harald seinen abtrünnigen Anhängern hinterher, und ich bin froh, doch nicht die dämlichste Person zu sein, die auf der Straße zurückgeblieben ist.
»Glückwunsch, Harry, acht zu eins gegen einen Halbstarken verloren, damit kannst du richtig angeben.« Einen Halbstarken, dessen Geburtstag ich vergessen habe, füge ich in Gedanken hinzu.
Aber Harald lacht nur auf: »Ach, Doki, du musst hier nicht das Maul aufreißen. Tauchst hier mit einem deiner Kiddies auf. Würde ich nie machen, was von der Arbeit mit in die Kneipe nehmen.«
Das wäre auch nicht wünschenswert. Den Spitznamen Zauberhand hat der gute Harald nicht nur seinen Kickerkünsten zu verdanken, sondern auch seiner beruflichen Kompetenz. Er ist Minenräumer bei der Bundeswehr.
»Sollen wir den Kicker wieder reintragen?«, will ich einen Vorschlag zur Güte machen, aber in diesem Moment vernehmen wir eine Botschaft von der anderen Seite des geöffneten Kneipenfensters: »Eins, zwo, drei … yeah … check … check … ach, scheißegal, wir fangen jetzt an.«
Für einen Soldaten fällt Harald sowohl ziemlich eigenständige, als auch vernünftige Entscheidungen. »Ach, lassen wir den Kicker stehen, klaut schon keiner. Ich muss da rein, sonst verpass ich noch das Beste.«
Obwohl Harry manchmal unendlich nerven kann, muss ich ihm eines zugestehen. Er nagt nicht an Niederlagen aus der Vergangenheit, auch wenn diese erst drei Minuten zurückliegen. Und viel mehr noch als er muss ich da jetzt rein. Ich muss mit Ludi reden, mich kurz und sachlich dafür entschuldigen, dass ich seinen Geburtstag vergessen habe, ihm gestatten, noch ein oder zwei Biere zu trinken, und ihn dann in die Bahn nach Hause setzen.
Irgendwann in den nächsten Tagen werden wir uns dann mal gemeinsam hinsetzen und eine wichtige Fragen klären: Warum wollte Ludi seinen Geburtstag mit mir und nicht mit seinen Kumpels verbringen?
Sämtliche plausible Antworten, die mir spontan darauf einfallen, machen mich ungeheuer nervös. Ich rauche noch eine, still und allein neben dem Kicker. Es hilft nichts. Rein da.
Kaum stehe ich wieder auf der Tanzfläche, hat schon wieder jemand an der Uhr gedreht. Oder zumindest an der Optik.
Was ich auf der Bühne sehe, passt nicht zu dem, was ich höre. Die Mitglieder der Vorband haben das richtige Backstage ungestützt gefunden, und sich dort in volles Ornat geworfen: Sie tragen genau die Klamotten und Instrumente zur Schau, die man von einer Formation erwartet, die sich »Wake in Pain« nennt.
In gepflegten schwarzen Ledermänteln und mit ambitiös gestalteten Kopfbedeckungen präsentieren sie ihre schweineteuren Gitarren und Bässe, die genau wie das Schlagzeug mit dem Bandlogo verziert sind. Aber das mit Detailverliebtheit aufgepinselte Horror-Make-up hielt schon der ersten Schwitzattacke nicht stand. Und die erwischte die Gruppe schon kurz nach dem Anzählen.
»You want War? Then bleeeeeed!«, lautete der schmerzhafte Weckruf des Frontberserkers in das Mikrofon. Aber was wohl als Programmüberschrift rüberkommen
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