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Betrogen

Betrogen

Titel: Betrogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brown Sandra
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auf den Beistelltisch neben ihrem Sessel. Sie hatte Angst, sich übergeben zu müssen, falls sie auch nur einen Schluck zu trinken versuchte.
    Lewis fuhr fort: »Die Nachbarin hat dem Leiter der Ermittlung Ihren Namen genannt. Er hat uns herübergeschickt, um Sie zu benachrichtigen.«
    Â»Sie ist tot?« Sie schüttelte den Kopf, als handle es sich um ein Missverständnis. »Wieso?«
    Beklommen warf Lewis seinem Kollegen einen verstohlenen Blick zu. Leider war keiner von beiden für eine Antwort tapfer genug.
    Â»Antworten Sie mir –«, forderte sie. Ihre Stimme brach. »Sie sagten – Sie sagten, es hätte Schwierigkeiten gegeben. Welche? Mit dem Ofen? Ist sie erstickt? Hatte sie einen Herzanfall oder einen Allergieschock? Was denn?«
    Lewis sagte: Ȁhem, nein, Ma’am. Es sieht nach Mord aus.«
    Wieder atmete sie so plötzlich aus, dass ihre Lungen pfiffen.
    Â»Tut mir Leid, Ms. Lloyd, aber einfühlsamer kann man das nicht ausdrücken. Ihre Schwester wurde ermordet. Ziemlich grausam.«
    Â»Grausam?«, wiederholte sie mit dünner Stimme.
    Â»Die Ermittler sind bereits am Tatort. Ein Team von der Spurensicherung ist unterwegs.«
    Sie schoss hoch. »Ich fahre hin.«
    Â»Das wäre nicht klug«, meinte Lewis mit beschwichtigender Geste. »Man wird den Leichnam Ihrer Schwester –«
    Â»Ich fahre hin.«

    Sie stürzte ins Schlafzimmer, riss sich Bademantel und Nachthemd vom Leib, zerrte Jeans und Hemd aus dem Schrank und zog sie an. Zuletzt schob sie die Füße in ein Paar Turnschuhe und packte Brieftasche und Wagenschlüssel. In weniger als zwei Minuten war sie wieder bei den Polizisten an der Haustüre.
    Als Lewis die Wagenschlüssel in ihrer Hand sah, erbot er sich, sie hinüberzufahren.
    Â»Ich werde selbst fahren«, sagte sie und schob ihn zur Seite.
    Â»Ms. Lloyd, in Ihrem momentanen Zustand darf ich Sie nicht ans Steuer lassen. Sie würden sich und andere gefährden. Vielleicht könnte eine Freundin vorbeikommen –«
    Â»Ach, schon gut, ich werde mit Ihnen fahren. Aber, bitte, rasch.«
    Â»Denken Sie daran, das Haus ist Schauplatz eines Verbrechens«, sagte er. »Möglicherweise lässt man Sie nicht hinein.«
    Â»Den möchte ich sehen, der versucht, mich aufzuhalten.«
    Â 
    Die Fahrt von Melinas Haus zu Gillians dauerte genau elf Minuten. Das hatten sie gestoppt. Aber derzeit standen überall Schülerlotsen. Außerdem unterschritt der stumme Caltrane deutlich die erlaubte Geschwindigkeit, so dass die kurze Fahrt drei Mal so lange dauerte wie sonst.
    Lewis, der auf dem Beifahrersitz saß, erkundigte sich unterwegs mehrmals: »Ms. Lloyd, alles in Ordnung?«
    Sie gab keine Antwort. Natürlich war gar nichts in Ordnung, und das wusste er genau. Warum sollte sie ihm versichern, dass es ihr gut ginge, wenn es nicht der Fall war? Nur aus einem einzigen Grund trat sie nicht laut schreiend um sich: Für einen hysterischen Anfall fehlte ihr die Energie. Der Schock hatte sie so betäubt, dass sie nicht einmal weinen konnte. In diesem Zustand war sie nur noch zu einem fähig: Sie starrte geistesabwesend durchs Autofenster und versuchte, die Ereignisse in ihren Gedanken zu ordnen, die sie nicht fassen konnte, obwohl sie sie mit eigenen Ohren gehört hatte. Unmöglich. Das konnte nicht sein.

    Für alle anderen war es ein ganz normaler Tag. Mütter verfrachteten ihre Kinder in die Schule. Ehepaare, die beide arbeiteten, stimmten hastig ihre Tagespläne ab, ehe sie sich mit einem Kuss verabschiedeten. Rentner lasen gemeinsam die Zeitung oder schauten im Fernsehen die Frühnachrichten.
    Alle gingen unbeschadet und unbesorgt ihrer gewohnten Wege. Nur sie nicht. Sie hasste diese Leute, weil sie für ihre persönliche Tragödie weder Augen noch Ohren hatten. Soeben hatte ein unumkehrbares Ereignis ihr Leben in seinen Grundfesten erschüttert. Von diesem Punkt an würde nichts mehr so sein wie zuvor. Der Verlust ihrer Schwester, ihres Zwillings, war permanent. Für alle Ewigkeit. Begriff das denn niemand? Es schien grundfalsch zu sein, dass die übrige Welt keinen Moment angehalten hatte, um dieses tragische Geschehnis zur Kenntnis zu nehmen, das ein Leben für immer verändert hatte.
    Und neben der Verachtung für alle, für die dies ein ganz normaler Tag war, war da noch etwas: Sie neidete ihnen ihre Unkenntnis. Sie wünschte sich

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