Bettler 01 - Bettler in Spanien
Alice.
In Leishas Augen begann es zu kribbeln. »Ja, Alice. Ja, er gießt die Blumen.«
»Er hat mir eine geschenkt!«
Leisha nickte. Alice glitt zurück in den Schlaf und lächelte – an einem Ort, wo ein kleines Mädchen die Liebe ihres Vaters hatte.
Ein paar Stunden später erwachte sie wieder und drückte Leishas Hand mit unerwarteter Kraft. Ihre Augen blickten aufgeregt. Sie versuchte sich aufzusetzen und keuchte: »Ich hab’s geschafft! Ich hab’s geschafft! Ich bin immer noch da! Ich bin nicht gestorben!« Dann fiel sie wieder zurück auf die Kissen.
Jordan, der neben Leisha am Bett seiner Mutter stand, wandte sich ab.
Das letztemal, als Alice aufwachte, war sie bei klarem Verstand. Sie sah Jordan liebevoll an, aber Leisha merkte, daß sie nichts zu ihm sagen würde, denn Worte waren nicht notwendig. Alice hatte ihrem Sohn alles gegeben, was sie hatte, alles, was er brauchte, und er war in Sicherheit. Zu Leisha gewandt flüsterte sie: »Gib… acht… auf Drew.«
Auf Drew. Nicht auf Jordan oder auf Eric oder ihre anderen Enkel. Irgendwie erkannte Alice, wo etwas am dringendsten benötigt wurde. Aber hatte sie das nicht immer schon gewußt?
»Ja, das werde ich tun. Alice…«
Aber Alice hatte bereits die Augen geschlossen, und das Lächeln lag wieder auf den Lippen, die in ihrer privaten Traumwelt zuckten.
Als alles vorbei war und Stella und ihre Tochter Alices schütteres graues Haar aufsteckten und bei der staatlichen Behörde um die Sonderbewilligung für ein Privatbegräbnis ansuchten, ging Leisha in ihr eigenes Zimmer. Sie zog sich nackt aus und trat vor den Spiegel. Ihre Haut war klar und rosig, ihre Brüste gaben nach Jahrzehnten von Schwerkrafteinwirkung zwar etwas nach, waren jedoch immer noch voll und glatt, und die Muskeln ihrer langen Beine spannten sich sichtbar, wenn sie den Fuß streckte. Ihr Haar, immer noch so hellblond, wie Roger Camden es bestellt hatte, fiel ihr in weichen Wellen um die Wangen. Sie dachte flüchtig daran, nach der Schere zu greifen und in ihrem Haar zu wüten, bis es in zerfledderten Strähnen nach allen Seiten stand, aber sie fühlte sich zu alt dazu, zu müde für theatralische Gesten. Ihre Zwillingsschwester war an Altersschwäche gestorben. Sie schlief für alle Zeiten.
Leisha zog die Kleider wieder an, ohne noch einen Blick in den Spiegel zu werfen, und ging dann hinunter, um Stella und Alicia zur Hand zu gehen, wenn sie Alice zurechtmachten.
Richard, Ada und ihr Sohn kamen zum Begräbnis nach New Mexico. Sean war jetzt neun Jahre alt und ein Einzelkind geblieben – fürchtete Richard, daß ein nächstes Kind zu einem Schlaflosen werden könnte? Richard sah zufrieden aus und so seßhaft und beständig, wie sein und Adas Wanderleben es zuließ. Älter sah er nicht aus. Gegenwärtig beschäftigte er sich mit der Kartierung von Meeresströmungen in einem landwirtschaftlich intensiv genutzten Teil des Indischen Ozeans, unmittelbar vor dem Festlandsockel. Die Arbeit schritt flott voran. Er legte die Arme um Leisha und sagte, wie sehr es ihm leid täte wegen Alice, und Leisha wußte, daß es aus dem Herzen kam. Doch durch ihre Trauer hindurch drang aus einem Winkel ihres Bewußtseins der Gedanke, daß dies seit ihrer Jugend der wichtigste Mann in ihrem Leben war, und daß sie gar nichts fühlte, wenn er sie so an sich gedrückt hielt. Er war ein Fremder, den nur die Biologie elterlicher Auswahlkriterien und eine Vergangenheit aus sehr begrenzten Träumen mit ihr verband.
Auch Drew kam zum Begräbnis nach Hause.
Leisha hatte ihn vier Jahre lang nicht gesehen, nur seine imposante Karriere in den Medien verfolgt. Sie empfing ihn in dem mit Steinen ausgelegten Garten, in dem die künstlich zu dauernder Blüte gebrachten Kakteen leuchteten und tropische Pflanzen unter transparenten Y-Schirmen mit hoher Luftfeuchtigkeit gediehen. Ohne das geringste Zaudern fuhr er mit dem Rollstuhl auf Leisha zu. »Tag, Leisha!«
»Willkommen zu Hause, Drew.« Er hatte immer noch dieselben intensiv grünen Augen, obwohl er sich in jeder anderen Hinsicht wieder einmal völlig verändert hatte. Leisha dachte an den schmutzigen, dürren Zehnjährigen, an den schlaksigen Teenager, der sich so sehr bemüht hatte, ein Macher zu sein – mit Jacke, Schlips und abgekupferten Manieren –, an den Oberschüler mit dem Hauptfach Schauspiel und mit perfektem Haarschnitt und Spitzenbesatz an den Manschetten seiner topschicken altertümlichen Retro-Kleider, und schließlich an den
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