Bettler 01 - Bettler in Spanien
hervorzuholen? Das ganze alte Vokabular war plötzlich wieder da, die alte Geisteshaltung, ja sogar die alten Witze bei den übelsten Nutzer-Sendern. »Was kommt raus, wenn man einen Schlaflosen mit einem Pitbull kreuzt? Ein Gebiß, das wirklich nicht mehr losläßt!« Den hatte Leisha gehört, als sie in Harvard war. Vor siebenundsechzig Jahren.
Laut sagte sie: »Und ich blickte mich um und sah, daß es nichts Neues gab unter der Sonne, und das Rennen gehörte nicht dem Schnellen, und der Kampf nicht dem Starken, und die Stunde nicht dem Tüchtigen…«
Jordan und Stella sahen Leisha besorgt an, und es war wirklich nicht fair, die beiden mit melodramatischen Zitaten in Unruhe zu versetzen. Ganz besonders nicht nach stundenlangem Schweigen. Sie sollte besser mit ihnen reden, ihnen erklären, was sie fühlte…
Sie fühlte sich so müde.
Mehr als siebzig Jahre lang hatte sie immer wieder die gleichen Dinge gesehen, und angefangen hatte es mit Tony Indivino. »Du gehst also diese Straße in Spanien entlang, und hundert Bettler wollen jeder einen Dollar von dir haben, und du sagst nein, dann stürzen sie sich wütend auf dich…« Sanctuary. Das Gesetz, dieser trügerische Schöpfer aller Gemeinsamkeit. Calvin Hawke. Wieder Sanctuary. Und über allem die Vereinigten Staaten: reich, blühend, kurzsichtig, großartig bei Gesamtkonzepten und kleinlich bei den Details und zutiefst abgeneigt, dem Geistigen den Respekt der Massen zu verschaffen. Dem Glück ja, dem Erfolg, der Schönheit, dem Individualismus, dem Glauben an Gott, dem Patriotismus, dem Draufgängertum, der Tapferkeit, dem Rückgrat, der Beharrlichkeit – aber niemals komplexer Intelligenz und komplexem Denken. Nicht die Schlaflosigkeit war es, die zu all den Tumulten geführt hatte; es war das Denken und seine beiden natürlichen Konsequenzen: Wandel und Herausforderung.
Verhielt es sich in anderen Ländern, anderen Kulturen auch so? Leisha wußte es nicht. In dreiundachtzig Jahren hatte sie kein einziges Mal die Vereinigten Staaten länger als für ein Wochenende verlassen und auch keinen sonderlichen Wunsch danach verspürt. Gewiß war das ein Einzelfall bei diesen globalen Wirtschaftsbeziehungen…
»Ich habe dieses Land immer geliebt«, sagte Leisha wieder laut und erkannte augenblicklich, wie merkwürdig diese zusammenhanglose Liebeserklärung klingen mußte.
»Leisha, Liebes, möchtest du einen Schluck Brandy? Oder eine Tasse Tee?« fragte Stella.
Unwillkürlich mußte Leisha lächeln. »Jetzt hast du geradeso geklungen wie Alice.«
»Also?« drängte Stella.
»Leisha«, sagte Drew. »Ich glaube, es wäre gut, wenn du jetzt…«
»Leisha Camden!« tönte es von der Holobühne.
Stella schnappte nach Luft.
Die aktuellen Berichte aus dem Weißen Haus, die Bilder von den Unruhen in New York und die Satellitenaufnahmen von Sanctuary waren verschwunden, und ein junges Mädchen mit großen dunklen Augen und einem ausladenden, leicht unförmigen Kopf stand steif auf der Holobühne, umgeben von einem ungewohnt ausgestatteten Forschungslabor. Es trug eine dünne Bluse, Shorts und einfache Sandalen, und sein wirres dunkles Haar war mit einer roten Schleife zurückgebunden. Richard, dessen Anwesenheit im Zimmer Leisha völlig entfallen war, gab einen erstickten Laut von sich.
Das Mädchen sagte: »Hier spricht Miranda Serena Sharifi in Sanctuary. Ich bin die Enkelin von Jennifer Sharifi und Richard Keller. Ich sende diese Botschaft direkt an Ihre Empfangsanlage in New Mexico. Zugleich werden sämtliche Kommunikationsnetze von Sanctuary unwirksam. Die Botschaft wurde dem Hohen Rat nicht vorgelegt und wird somit ohne seine Autorisierung gesendet.«
Das Mädchen machte eine kurze Pause, und ein leichtes Zaudern war in dem ernsten jungen Gesicht wahrzunehmen. So ernst – dieses Kind sah aus, als würde es nie lächeln. Wie alt war es? Vierzehn? Sechzehn? Es sprach mit einem leichten Akzent, so als hätte sich die Sprechweise auf Sanctuary über die Jahre hinweg ein wenig verändert; es klang präziser, förmlicher – beides ein Gegensatz zur üblichen Entwicklung von Sprachen. Dieser Unterschied verlieh seinen Worten zusätzliche Ernsthaftigkeit. Leisha trat unwillkürlich einen Schritt näher an die Holobühne heran.
»Wir sind eine Gruppe von Schlaflosen, die jedoch etwas mehr sind als nur normale Schlaflose. Eine GenMod-Konstruktion. Sie nennen uns die SuperSchlaflosen. Ich bin die älteste von den achtundzwanzig, die über zehn Jahre alt sind.
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