Bettler 01 - Bettler in Spanien
Stella etwas, und in zehn Jahren ist Stella deswegen ein neuer Mensch und gibt irgendeinem noch Unbekannten etwas – dann ist das eine Ökologie. Eine Ökologie des Tauschhandels, jawohl, in der jede einzelne aller Nischen benötigt wird, auch wenn sie nicht vertraglich aneinander gebunden sind. Braucht denn ein Pferd einen Fisch? Allerdings.
Zu Tony sagte sie: Ja, es gibt diese Bettler in Spanien, die nichts zu tauschen haben, die nichts geben, die nichts tun. Aber es gibt mehr als nur Bettler in Spanien. Distanzierst du dich von den Bettlern, distanzierst du dich von dem ganzen Land, verdammt noch mal! Und du distanzierst dich von der Möglichkeit einer Ökologie des Helfens. Das ist es, was Alice vor all diesen Jahren in ihrem Zimmer wollte: schwanger, verängstigt, wütend und eifersüchtig, wie sie war, wollte sie mir helfen, und ich ließ es nicht zu, weil ich ihre Hilfe nicht brauchte. Aber jetzt brauche ich sie. Wie sie damals die meine. Bettler brauchen nicht nur Hilfe, sie wollen sie auch geben.
Und schließlich war nur noch Papa übrig. Sie konnte ihn sehen, mit seinen strahlend hellen Augen und seinen dickblättrigen tropischen Gewächsen in den starken Händen. Zu Roger Camden sagte sie: Du hattest unrecht. Alice ist etwas Besonderes. Ach, Papa, und wie besonders sie ist! Du hattest unrecht.
Und schließlich, am Ende ihrer Gedanken, spürte sie eine große Helligkeit in sich. Es war nicht Freude – diese Kugel aus tanzendem Licht – und auch nicht die strahlende Klarheit abrufbaren Wissens, sondern etwas anderes: es war Sonnenschein, der weich durch das Glas des Gewächshauses fiel, in dem zwei Kinder hin- und herrannten durch Licht und Schatten. Und plötzlich fühlte sie sich ganz leicht – nicht schwebend leicht, sondern so durchscheinend, daß selbst die Sonnenstrahlen auf ihrem zielstrebigen Weg woandershin sie glatt durchdrangen.
Sie fuhr die schlafende Frau und das verletzte Kind an ihrer Seite durch die Nacht, Richtung Osten, zur Staatsgrenze.
Buch II
SANCTUARY
2051
»Man könnte sagen, daß es drei Dinge sind, die einen Staat ausmachen: sein Territorium, sein Volk und seine Gesetze. Das Territorium stellt davon den einzigen Teil dar, der verläßlich von Dauer ist.«
Abraham Lincoln
in seiner Botschaft an den Kongress
vom 1. Dezember 1862
8
Jordan Watrous stand am Tor vor der Einfahrt der Wir schlafen! -Motorrollerfabrik an einer staubigen Landstraße in Mississippi. Ein zweieinhalb Meter hoher, elektrisch geladener Zaun erstreckte sich zu beiden Seiten der Einfahrt. Kein Y-Energiefeld, keine raffinierte Technik, aber er erfüllte seinen Zweck. Zumindest für den Moment, solange die Angriffe auf die Fabrik unerheblich, nicht organisiert und in erster Linie verbal blieben. Später einmal würden sie hier ein Y-Feld brauchen. Sagte Hawke.
Auf der anderen Seite des Flusses, in Arkansas, glitzerten die Y-Energiekegel von Samsung-Chrysler in der Morgensonne.
Jordan kniff die Augen zusammen und blickte die Straße hinunter. Schweiß verfilzte sein Haar und floß ihm den Hals hinab. Die Toraufsicht, eine struwelköpfige, sehnige Frau in ausgewaschenen Jeans, steckte den Kopf aus dem Wächterhaus und rief: »Heiß genug für dich, Jordan?«
Über die Schulter rief er zurück: »Ist es doch immer, Mayleen.«
Sie lachte. »Kaum schickt der liebe Gott ein bißchen normale Hitze, macht ihr Jungs aus Kalifornien gleich schlapp!«
»Wir sind eben nicht so hart im Nehmen wie ihr Flußratten.«
»Mann, niemand ist so hart im Nehmen wie wir. Sieh dir bloß Mister Hawke an.«
Als ob es irgend jemandem in einer Wir schlafen! -Fabrik möglich gewesen wäre, das zu vermeiden! Nicht, daß Hawke sich die Ehrfurcht in Mayleens Stimme nicht verdient hätte; als Mayleen letzten Winter eingestellt wurde, hatte Jordan – damals auch erst seit vier Wochen Hawkes persönlicher Assistent – Hawke zu ihrer Hütte begleitet, um ihr ein paar Fragen zu stellen. Obwohl die Behausung ausreichend beheizt und mit der billigen Y-Energie versorgt wurde, auf die nach der Allgemeinen Wohlfahrtsverordnung jeder Bürger einen gesetzlichen Anspruch hatte, gab es darin weder Bad noch Toilette, sehr wenige Möbelstücke und kaum Spielsachen für die mageren struwelköpfigen Kinder, die Jordans Lederjacke mit dem ComLink am Aufschlag anstarrten. Und letzte Woche hatte Mayleen mit Stolz in der Stimme verkündet, daß sie gerade eben eine Toilette und einen Satz
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