Bettler 01 - Bettler in Spanien
zurückzuziehen, falls er der Gemeinschaft weiterhin seine Solidarität verweigert. Das ist alles.«
Der Bildschirm war leer.
Eine Minute lang saß Leisha reglos davor, ehe sie aus dem Verzeichnis der Bibliotheks-Datenbank Lincolns Rede aufrief. Zeilen rollten über den Schirm, und eine Schauspielerstimme fing an zu rezitieren, aber Leisha brauchte weder das eine noch das andere; schon bei den ersten Worten wußte sie, um welche Rede es sich handelte. Lincoln hatte, als seine Rechtsanwaltskanzlei nach Verschuldung und vielen Enttäuschungen wiederaufgebaut war, die Nominierung zum Kongress seitens der Republikaner angenommen; sein Gegner war Stephen Douglas, der brillante Verfechter des Rechts aller Territorien, sich für die Sklaverei zu entscheiden, wenn sie es wünschten. Lincoln ergriff das Wort und sprach zu den streitsüchtigen, hitzigen Teilnehmern am Parteitag: »Ein Haus, das in sich entzweit ist, kann nicht stehen.«
Leisha schaltete das Terminal ab. Sie wanderte in das Zimmer, das sie und Kevin für ihre gelegentlichen Intimitäten benutzt hatten. Er hatte das Bett mitgenommen. Nach einer Weile legte sie sich auf den Boden, die Handflächen flach neben sich gepreßt, und atmete langsam und tief durch.
Richard. Kevin. Stella. Sanctuary.
Sie fragte sich, wieviel sie noch verlieren konnte.
Jennifer sah Will Sandaleros durch das Gefängnissicherheitsfeld hindurch an; es schimmerte ganz leicht, gerade genug, um als Weichzeichner für die markanten jungen Konturen seines GenMod-Kinns zu fungieren. »Es sind doch praktisch nur Indizienbeweise, die mich mit den Manipulationen am Roller in Verbindung bringen, Will. Sind die Geschworenen klug genug, um das zu durchschauen?«
Er log sie nicht an. »Schläfer-Geschworene…« Es folgte ein langes Schweigen. »Jennifer, ißt du ausreichend? Du siehst nicht gut aus.«
Sie war ehrlich überrascht. Er fand immer noch, daß das alles von Belang war! Wie sie aussah, ob sie aß oder nicht. Unmittelbar auf die Überraschung folgte jedoch Mißmut; sie hatte gedacht, Sandaleros wäre über diese Art von Sentimentalität erhaben. Genau dafür brauchte sie ihn! Er mußte sich klar darüber sein, daß solche Dinge angesichts dessen, was sie tun mußte – und was er für sie tun mußte –, völlig irrelevant waren! Wofür übte sie strenge Selbstdisziplin, wenn nicht für das Unterordnen von Nebensächlichkeiten wie ihrem Aussehen oder ihren Gefühlen? Das Unterordnen unter das, was wirklich von Wichtigkeit war – unter Sanctuary? Sie befand sich nun an einem Punkt, an dem nichts anderes mehr wichtig war, an dem nichts anderes mehr wichtig sein durfte, und sie hatte schwer darum gekämpft, an diesen Punkt zu gelangen. Sie hatte die Haft, die Isolation und die Trennung von ihren Kindern, sowie die persönliche Schande als Straßen benutzt, die zu diesem Punkt führten – und damit zu Triumphen des Willens und der Tat. Sie hatte gedacht, Will Sandaleros würde das erkennen. Er sollte dieselbe Straße benutzen, mußte dieselbe Straße benutzen, weil sie, Jennifer, ihn an dem Ende dieser Straße brauchte!
Doch sie durfte nicht den Versuch machen, ihn zu rasch zu diesem Punkt zu bringen. Das war ihr Fehler bei Richard gewesen. Sie hatte gedacht, Richard würde an ihrer Seite schreiten, ebenso mühelos und schnell wie sie; statt dessen hatte er geschwankt, und sie hatte es nicht bemerkt, und Richard war zusammengebrochen. Die Verantwortung dafür lag bei ihr, weil sie sein Schwanken nicht bemerkt hatte. Richard war mit dem Draußen auf eine Art und Weise verbunden gewesen, die sie, Jennifer, übersehen hatte: mit dem Draußen, mit überholten Idealen und vielleicht immer noch mit Leisha Camden. Die Erkenntnis rief keine Eifersucht hervor. Richard hatte sich nicht als stark genug erwiesen. Das war alles. Will Sandaleros, der in Sanctuary aufgewachsen war, sein Leben Sanctuary verdankte, würde stark genug sein. Jennifer würde ihn stark genug machen. Aber nicht zu rasch.
So sagte sie: »Es geht mir soweit gut. Was hast du noch für mich?«
»Leisha hat gestern Zugang zum Netz gesucht.«
Sie nickte. »Gut. Und die anderen auf unserer Liste?«
»Alle außer Kevin Baker. Aber er ist aus ihrer gemeinsamen Wohnung ausgezogen.«
Freude durchflutete sie. »Könnte man ihn dazu bringen, den Eid abzulegen?«
»Ich weiß es nicht. Wenn er es tut, willst du ihn dann drinnen haben?«
»Nein. Draußen.«.
»Es wird schwer sein, ihn unter elektronischer Überwachung zu halten.
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