Bettler und Hase. Roman
nach ein modernes Einfamilienhaus, das nur zufällig mitten im Nichts stand. Aber auch das stimmte nicht einmal mehr, denn zehn Kilometer entfernt gab es ein Skizentrum, wo mehr Veranstaltungen in Sachen Kultur, Unterhaltung und Sport stattfanden als in Vantaa.
Eines Morgens stellte Harri Pykström fest, dass er in einem Haus wohnte, das genauso war wie das Haus, das er verlassen hatte, und wieder stach es in der Brust. Er hatte fischen, jagen, autark leben wollen und sah sich nun mit dem Quad ins nächste Dorf fahren, um das gleiche Euroshopper-Zeug zu kaufen, das es überall in Finnland und Europa gab, und im Pub nebenan Premier League zu gucken. Pykström taugte nicht zum Einsiedler.
Er steckte sich eine neue Zigarette an der alten an und ließ noch eine Dose aufzischen. Das Thermometer in der Sauna zeigte fünfundfünfzig Grad. Pykström ging noch ein bisschen Holz holen.
Vatanescu blieb an einem schmalen Bach stehen. Inzwischen hatte er sechs Plastiktüten Beeren gesammelt und zum Basislager gebracht. Nun füllte er gerade die letzten beiden und hatte ein logistisches Problem vor sich: Wie sollte er all die Säcke zu den Käufern transportieren?
Der Schweiß rann ihm herab, nebenan plätscherte der Bach, und Vatanescu fragte sich, ob man das Wasser trinken konnte. Nachdem Milos Panos aus dem Fluss in seinem Heimatdorf getrunken hatte, war ihm eine dritte Hand gewachsen, jedenfalls einer Geschichte nach, und diese Geschichte hatte immerhin seine Mutter erzählt. Das Kaninchen hüpfte auf einen Stein im Bach und schleckte das Wasser mit der Zunge.
Als er das sah, trank auch Vatanescu, und das Wasser schmeckte ihm besser als die erste Coca-Cola seines Lebens, die er im Sommer 1990 mit Maria auf der Brücke der Ruinenstadt Stenea getrunken hatte. Er machte sich das Gesicht nass und wischte sich die Hände am weißen Hemd ab. Hemd und Hände waren von den Blaubeeren ganz schwarz geworden. Als Vatanescu aufblickte, sah er auf der anderen Seite des Baches ein kleines Gebäude, vor dem sich ein fassförmiger nackter Mann bückte.
Gibt es hier Menschen? Was sagt man zu einem Menschen?
Was mag ein Mensch? Wenn man ehrlich ist.
Vatanescu schwenkte den Arm und rief, er sei ein Jedermann.
Harri Pykström hatte die Holzscheite in den Korb geschichtet, als er jemanden auf der anderen Seite des Baches winken sah – auf seinem Grund und Boden, an seinem Sauna-Abend. Da war mit Sicherheit kein Landvermesser unterwegs. Mit seiner Steppjacke und den schwarzen Haaren sah er wie ein Sizilianer aus, am Ende gar wie ein Terrorist. Das Stadium der Betrunkenheit, in dem sich Pykström befand, machte jede emotionale Reaktion möglich, und er wählte die Angst. Diese wiederum drückte sich in Form von Hass aus: Zum Teufel mit allen Eindringlingen, dachte Pykström. Auf seinem eigenen Grund und Boden darf man schießen, wie man will, dachte er außerdem, und da holte er auch schon sein Kleinkalibergewehr aus dem Umkleideraum der Sauna. Eigentlich war es für Schneehühner und sonstiges Kleinwild vorgesehen, aber man konnte damit auch die Angriffe von Invasoren abwehren.
Der Mann auf der anderen Seite des Bachs winkte noch, als Pykström bereits in Kniestellung ging und zielte. Der Eindringling hielt etwas in den Händen, und vor seinen Füßen sprang ein Tier herum, registrierte Pykström. Dann drückte er ab.
Vatanescu warf sich zu Boden und landete mit dem Gesicht im flachen Wasser. Noch viermal spritzte es um ihn herum auf, dann wurde es still. Vatanescu hielt den Kopf unter Wasser wie ein kleines Kind, das sich die Augen zuhält und glaubt, dann könne niemand es sehen.
Pykström rannte zum Bach und befahl Vatanescu, aufzustehen.
Vatanescu verstand Pykströms Worte nicht, die Gebärden aber schon. Also stand er triefend auf und hob die Hände. In beiden hielt er Beerentüten. Seine Brust war rot.
Ich sterbe. Dabei hätte ich so gern noch gelebt.
Das Rot stammte von den Preiselbeeren.
»What man?!«, rief Pykström. »You Mafia kriminal. Ich finski Soldat!«
Beerenpflücker, erklärte Vatanescu in zwei Sprachen, in seiner eigenen und einer fremden. Dabei zeigte er die Tüten her.
Jedermann.
Rechte.
Der lügt, dachte Pykström, der Sizilianer lügt. Und selbst wenn er die Wahrheit spricht – was ist schlimmer als einer, der auf dem Grund und Boden anderer Leute Beeren pflückt und damit reich wird? Will man auf seinem eigenen Grund und Boden einen Brunnen bohren, einen Abwasserkanal ziehen oder einen Anbau machen,
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