Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
sollte, so überlegte Viktor, dann könnte er Cristobal in den Schal einwickeln.
„Und falls wir uns verlaufen?“, fragte Viktor erschrocken, als sie vor dem Gartentor standen.
„Viktor Abies, Aquifoliumstr. 17, 00319 Hedera Helix“, antwortete Cristobal blitzschnell.
„Das ist meine Adresse!“
„Ja.“
„Woher kennst du meine Adresse?“
„Ich muss dich ja finden, wenn ich zu dir komme, und ich habe schon navigieren gelernt. Außerdem steht alles in deiner Akte.“
„Ich habe eine Akte?“, fragte Viktor.
„Ja. Da ist aber noch nicht viel drin.“
„Was steht da über mich?“
„Da ist eine Kopie deiner Geburtsurkunde, eine Genanalyse, dein Stammbaum, deine Schulnoten, ein psychologisches Profil, ein Bild von dir … also noch nicht so viel.“
„Hat jeder Mensch eine Akte?“
Cristobal nickte. „Ja, jeder. Direkt bei der Geburt legen wir für jeden Neugeborenen eine Akte an, sie wächst im Laufe der Jahre und am Ende des Lebens ist es immer eine sehr dicke Akte.“
„Hat Catherine Zeta-Jones eine Akte?“
„Ja, aber sie gehört nicht zu uns. Ich besuche sie einfach nur so“, sagte Cristobal und grinste wieder ein wenig debil.
„Wieso habe ich eine Akte?“
„Ich weiß nicht. Ich werde das noch lernen. Vielleicht im Verwaltungslehrgang, das ist nächste Woche.“
Sie waren mittlerweile am Ende der Aquifoliumstraße angelangt. Sie waren an Roccos Bar vorbeigekommen, aber es war dunkel drinnen. Mittwochs war Ruhetag.
„Und jetzt?“, fragte Viktor. Cristobal schwirrte umher und roch an ein paar Gänseblümchen, die am Wegesrand standen.
„Keine Ahnung. Zeig mir Hedera Helix.“
Viktor war damit überfordert. Er war nie so spät draußen unterwegs gewesen, und außerdem war immer jemand anderes dabei, wenn er spazieren ging. Wenn er stark überlegte, war er noch nie mit jemand anders als mit Marco spazieren gewesen. Und manchmal mit Oded, wenn er die Kinder aus dem Atelier schaffen sollte. Seine Mutter hielt nichts von Spaziergängen, für sie war das Zeitverschwendung. Wenn sie mal unterwegs war, dann ging sie schnell und fokussiert einem Ziel entgegen. Für Helena bestand Hedera Helix aus dem Zollamt, Postamt, dem Kaufhaus, wo sie in der Nähabteilung ihren Zwirn und ihre Knöpfe kaufte, und ihrem Atelier, das der Mittelpunkt ihres Universums war. Manchmal ging sie auch auf den Markt, besser gesagt rannte dorthin mit Oded, der alle Tüten tragen durfte. Und nur selten, wenn es mal etwas zu feiern gab, wie einen Großauftrag oder einen Artikel in der Zeitung, der das Atelier erwähnte, gingen sie und die Mitarbeiter ins Reconquista. Aber das machte sie ungern und ließ sich lieber Apfelkuchen und Thermoskannen mit Milchkaffee direkt ins Atelier liefern. Rocco kam dann immer ganz mürrisch herbei, und es entstand ein Streit zwischen den beiden, da Helena immer etwas an Roccos Kleidung auszusetzen hatte. Sie nervte ihn mit Kommentaren wie „Bring mir mal diese Hose vorbei, ich werde dir den Saum umnähen“ oder „Gib mir mal dein Hemd, ich setze dir einen neuen Kragen ein“.
Sein Vater ging höchst ungern zu Fuß und fuhr überall mit dem Auto hin, deswegen war diese Nacht ein neuartiges Erlebnis für Viktor. Er und Cristobal bogen in die Pazifikstraße ein, die quer zur Aquifoliumstraße verlief, und erreichten einen kleinen, beleuchteten Platz mit zwei Bänken.
„Da vorne ist der Markt“, erklärte Viktor und zeigte in die Richtung, „und wenn wir da runtergehen“, er zeigte in die andere Richtung, „dann kommen wir zur Kirschallee, die dann zum Friedhof führt.“
„Gibt es da Kirschen?“, fragte Cristobal.
Viktor wusste es nicht, also gingen sie zur Kirschallee. Tatsächlich bestand die Kirschallee aus einer langen Straße, die an beiden Seiten mit Kirschbäumen bepflanzt war. Aber die Bäume hatten keine Kirschen, wie Cristobal enttäuscht feststellte.
Am Ende der Kirschallee lag der Friedhof ganz dunkel und bedrohlich da, also drehten sie sich um und gingen zurück. Sie setzten sich auf die Bank auf dem beleuchteten Platz, Cristobal schwirrte vor dem Straßenschild unter der Laterne und versuchte , es zu lesen.
„Platz der Holoarktis“, rief er dann überschwänglich, flatterte zu Viktor zurück und setzte sich auf die Banklehne. „Ich habe vor kurzem das Alphabet gelernt!“
„Ich habe das auch in der Schule gelernt“, sagte Viktor.
„Ich kann schon alle Buchstaben! Soll ich sie dir aufsagen? Acer Betula Capensis Didierea Eucalyptus Fagus … ich
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