Beuteschema: Thriller (German Edition)
mit tränenüberströmtem Gesicht aus dem Fenster von Mr. Winslows BMW schauen. Und wusste irgendwie, dass sie sich nie wiedersehen würden.
Sie stand im strömenden Regen wie damals, bis ihre Kleidung völlig durchnässt war, während die Tränen aus ihren Augen flossen.
Werde ich mich jemals wieder sicher fühlen? Irgendwo?
Claire drehte sich um, lehnte sich an das Haus und weinte wie noch nie. Denn diesmal weinte sie um alles, was sie verloren hatte.
All ihre Diplome, ihre Forschung über Neurotransmitter und deren Wirkung auf menschliches Verhalten, alle Forschungsstipendien der Welt würden nicht ausreichen, um das eine Gefühl auszulöschen, das sie seit Amys Entführung immer begleitet hatte.
Hilflosigkeit.
Sie wusste, sie musste dafür sorgen, dass sie gesund wurde. Und wenn sie den Rest ihres Lebens dafür brauchte.
Der Karton stand in der hintersten Ecke des Dachbodens, hinter einem alten Bettrahmen, genau dort, wo Claire ihn ihrer Erinnerung nach vor vielen Jahren hingestellt hatte.
Er war so lange nicht geöffnet worden, dass das Paketklebeband, das ihn zusammenhielt, spröde geworden war und zerfiel. Unmittelbar bevor sie zu ihrem ersten Studienjahr aufgebrochen war, hatte Claire die Kiste ihrem vielleicht endgültigen Ruheplatz anvertraut, wie sie damals glaubte. Damals hatte sie sich zum Leidwesen ihrer Eltern von möglichst vielen ihrer Besitztümer befreit und selbst ihr Zimmer leer geräumt, als würde sie nie mehr zurückkehren.
Sie war versucht gewesen, den Karton wegzuwerfen. Doch etwas hatte sie zurückgehalten, eine unsichtbare Hand, eine unbekannte Stimme, die ihr zuflüsterte, dass sie es bereuen würde. Stattdessen hatte sie ihn an einer Stelle versteckt, wo ihn niemand sehen würde, weit weg von den Sachen, die ihre Eltern dort oben verstaut hatten.
Claire zerrte die Kiste über den Dachboden und wirbelte eine Menge Staub auf dabei, der ihr in den Augen brannte und einen Niesanfall verursachte. Bis sie an der Falltür war, hatte er sich wieder gelegt, sie balancierte die Klappleiter hinunter und dachte mit einiger Zufriedenheit, dass sie die richtige Entscheidung traf.
Erst als der Karton auf dem Esszimmertisch stand, begannen sich Zweifel einzuschleichen. Hatte sie wirklich die Kraft, diesen Karton zu öffnen und die darin verstauten Erinnerungen freizusetzen? Doch nach wenigen Sekunden entschied sie sich.
Ich habe keine Wahl.
Sie riss das Band vom Deckel, klappte ihn auf und zog ohne hinzusehen den ersten Gegenstand heraus, auf den sie stieß.
Es war ein großes, nicht beschriftetes Fotoalbum. Claire betrachtete den weißen Kunststoffeinband, dessen einladendes, harmlos wirkendes Design schwerlich auf seinen Inhalt schließen ließ.
Wenn es einen Weg gibt, mich meinen Ängsten zu stellen, dann diesen.
Sie holte tief Luft und schlug das Album auf. Ein Ausschnitt aus dem Democrat and Chronicle, der Tageszeitung Rochesters, blickte ihr entgegen. Er war vom 18. Juli 1989, und die Schlagzeile kündete von der Vergangenheit, die sich Claire so angestrengt zu begraben bemühte.
POLIZEI SUCHT ENTFÜHRTES MÄDCHEN
Begleitet wurde der Artikel von einem großen Schwarz-Weiß-Foto von Amy, auf dem sie dasselbe T-Shirt trug wie am Tag ihres Verschwindens.
Ist gut, hörte sie Amy sagen, Mr. Winslow arbeitet mit meinem Dad.
Claire begann, die Geschichte zu lesen, die sie so gut kannte, und der ursprüngliche Schmerz löste sich auf, als die Worte in ihren Verstand drangen. Vielleicht war es wie beim Wechseln eines Pflasters, dachte sie. Es tat weniger weh, wenn man es schnell wegriss.
Sie ließ das Album offen, während sie den restlichen Inhalt aus dem Karton räumte: zwei weitere Fotoalben, zahllose Bilder von ihr und Amy zusammen. Beim Seilspringen, bei Himmel und Hölle. Auf dem Karussell im Vergnügungspark Seabreeze am Ontariosee. Vor den Elefanten im Seneca Park Zoo posierend. Bei jedem Foto kamen die Erinnerungen zurückgeflutet, die Claire ihr ganzes Leben lang so mühsam unterdrückt hatte. Ohne dass sie es merkte, fing sie an zu lachen, weil sie daran dachte, wie sehr sie Amy gemocht hatte und wie viel Spaß sie miteinander gehabt hatten.
Das Geräusch des Messingtürklopfers am Eingang holte sie aus ihrem beinahe tranceartigen Zustand. Sie schaute zu dem Durcheinander auf dem Tisch; ihre Eltern würden sich aufregen, wenn sie sahen, was sie trieb.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. 13.25 Uhr. Viel zu früh, als dass einer von ihnen nach Hause kommen konnte, und sie
Weitere Kostenlose Bücher