Bevor der Morgen graut
schauten sich um.
Ein alter Mann stand vor einem Schuppen und häutete ein fettes frisch geschlachtetes Lamm ab, dessen Hinterfüße er an den Ausleger eines alten Traktors gebunden hatte, um den Kadaver in die richtige Höhe zu hieven. Der Kopf des Tieres lag am Boden. Eine alte Stahlwanne fing das Blut auf, das aus seiner Kehle floss. Ein Junge im Konfirmationsalter stand neben dem Traktor und beobachtete, wie die beiden Polizeibeamten sich näherten. Aus dem Schuppen hörte man Hunde bellen. Sie waren wahrscheinlich dort eingesperrt worden, bevor das Lamm geschlachtet wurde.
Der alte Mann blickte nicht von seiner Arbeit hoch, als sie auf ihn zukamen. Man sah ihm an, dass er einmal groß und kräftig gewesen sein musste, aber jetzt wirkte er mit seinen eingefallenen Schultern und krummen Beinen wie geschrumpft. Er trug Gummistiefel, eine braune, wollene Hose, einen alten, abgewetzten Islandpullover und auf dem Kopf eine braune Schirmmütze.
Birkir und Gunnar traten noch etwas näher, blieben aber in ein paar Metern Entfernung stehen. Der Geruch von Eingeweiden,Blut und rohem Fleisch schlug ihnen entgegen, was an den Geruch der Leiche des Rechtsanwalts erinnerte, aber noch durchdringender war.
»Guten Tag«, sagte Birkir.
Der Mann blickte sie schräg von der Seite an, ließ sich aber nicht von seiner Arbeit ablenken.
»Bist du Grönländer?«, fragte er Birkir, als der noch ein paar Schritte näher gekommen war.
»Wenn’s sein muss, kann ich meinetwegen auch als Grönländer durchgehen«, erwiderte Birkir.
Der alte Mann schaute ihn misstrauisch an. »Grönländer sind in Ordnung«, erklärte er, »sie verstehen das Leben.«
»Ach so«, sagte Birkir, »dann bin ich wahrscheinlich doch kein Grönländer.«
»Wir sind von der Kriminalpolizei in Reykjavík«, sagte Gunnar ungeduldig. »Wir müssen dir ein paar Fragen stellen.«
»Dann fragt, aber macht ein bisschen dalli damit. Ihr seht, dass ich beschäftigt bin«, sagte der Alte, während er das blutige Messer am Hosenbein abwischte und einen kleinen Wetzstein aus der Tasche zog.
»Du hast die Leiche gefunden, nicht wahr?« Gunnar übernahm jetzt wieder die Gesprächsführung.
Der alte Mann spuckte auf den Wetzstein und begann, das Messer darüber zu ziehen.
»Ja, so kann man es ausdrücken.«
»Wann hast du sie gefunden?«
»Heute Morgen.«
Als Gunnar und Birkir noch näher kamen, blickte der alte Mann von seiner Arbeit hoch. Das von einem grauen Bart eingerahmte Gesicht wirkte seltsam weiß, die Augen waren glasig und etwas blutunterlaufen. Ein schwarzes Rinnsal troff ihm aus einem Mundwinkel.
»Wie spät war es genau?«
»Kurz nach neun.« Der alte Mann schaute nach der Sonne. »Ist es jetzt nicht schon nach drei?«
Gunnar blickte auf seine Uhr: »Ja, es ist Viertel nach drei.«
»Ich trage nie eine Uhr, weil ich sie ohne Brille nicht lesen kann. Aber in die Weite kann ich noch ganz gut sehen«, erklärte der alte Mann.
»Wie kam es dazu, dass du die Leiche gefunden hast?«
»Was meinst du damit?«
»Was hast du denn so weit entfernt vom Hof gemacht?«
»Na, ich habe mich natürlich nach dem Mann umgesehen.«
»Du hast dich also gewundert, was er da trieb.«
»Ja, selbstverständlich.«
»Wieso?«
»Er blieb so viel länger als sonst dort.«
»Woher weißt du das?«
»Woher ich das weiß? Denkst du vielleicht, dass ich taub bin? Wir sind heute Morgen von diesen verdammten Schüssen aufgewacht, denn das hallt hier am Berg immer so stark wider. Ich bin davon ausgegangen, dass er massenweise Gänse zur Strecke gebracht hatte, denn es war ein wildes Geballere. Und dann hörten die Schüsse auf einmal auf.«
»Wann war das?«
»Bei Tagesanbruch. Und dann ist er eben nicht zurückgekommen.«
»War das etwas Ungewöhnliches?«
»Nein, nicht unbedingt, aber es waren eben so viele Schüsse gewesen. Und sonst hat er sich da nie unnötig lange aufgehalten, sondern normalerweise drei bis vier Vögel auf dem Morgenstrich geschossen und ist dann gleich wieder abgehauen. Er weiß, dass ich was gegen diese Knallerei habe, denn die Schüsse verschrecken meine Tiere.«
»Hat er sich hier auf dem Hof gemeldet, um die Jagderlaubnis einzuholen?«
»Nein, das brauchte er wohl kaum.«
»Woher wusstest du, dass er noch da war?«
»Er hat sein Auto immer hier unterhalb der Zufahrt zum Hof stehen lassen, und da steht es ja auch immer noch, soweit ich sehe.«
Der alte Mann deutete auf den Nissan Patrol und fuhr dann fort: »Der Schulbus kam um halb
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