Bevor der Morgen graut
Säuberungsaktion.«
»Warst du gestern hier?«, fragte Gunnar.
»Nein, ich bin heute Morgen gekommen.«
»Wie denn? Ich habe draußen kein Auto gesehen. Mit dem Linienbus?«
»Ich bin auf meinem Motorrad gekommen, das steht in der Scheune.«
»Warum bist du jetzt gekommen?«
Kolbrún schaute Gunnar verständnislos an. »Warum bin ich jetzt gekommen? Was für eine Frage! Was glaubst du wohl?«
Gunnar zuckte mit den Achseln. »Um deinen Sohn zu sehen?«
»Ja, aber auch meinen Vater. Meine Männer brauchen mich in diesen Tagen. Das, was sich da zugetragen hat, ist doch nichtspurlos an ihnen vorübergegangen. Ich meine, da wurde doch ein Mann erschossen, und das ist sozusagen in Rufweite von ihnen passiert. Sie sind doch nicht völlig gefühllos, auch wenn einige das zu glauben scheinen.«
Gunnar nickte, um zu verstehen zu geben, dass er die Situation begriff, bohrte aber weiter: »Wie kam es dazu, dass dein Vater das Land verloren hat?«
Kolbrún antwortete nicht gleich. Erst nach einer Weile erklärte sie leise: »Es war natürlich zum allergrößten Teil meine Schuld. Ich habe Fehler gemacht, und niemand konnte oder wollte uns helfen. Dafür gab es aber um so mehr Leute, die das Ganze noch sehr viel schlimmer gemacht haben.«
»Wie ist es denn dazu gekommen?«
Kolbrún schien unschlüssig, ob sie näher darauf eingehen sollte.
»Es könnte uns helfen, deinen Vater aus dem Kreis der Verdächtigen auszuschließen, wenn wir die ganze Geschichte kennen würden«, erklärte Gunnar.
Nach einigem Zögern antwortete Kolbrún: »Ich habe in meinem Leben unwahrscheinliches Pech mit Männern gehabt und natürlich auch im Laufe der Jahre etliche falsche Entscheidungen getroffen.«
Sie drehte sich wieder zur Spüle um, öffnete den Hahn und füllte ein Wasserglas. Dann fuhr sie fort: »Vor vier Jahren bin ich mit einem Typen zusammengezogen, der Alkoholiker war, aber damals trocken. Wir kauften einen Kiosk in einer Neubausiedlung in Reykjavík, und anfangs lief es eigentlich richtig gut bei uns. Wir mussten natürlich ein Darlehen aufnehmen, und Papa hat dafür gebürgt. Ich stand von sieben Uhr morgens bis nachmittags um drei im Kiosk, dann übernahm mein Partner und hielt den Laden bis kurz vor Mitternacht offen. Er kümmerte sich auch um den Einkauf und die Finanzen, während ich den Haushalt schmiss. Das Ganze lief allerdings alles übermeinen Namen, denn er war ja schon vorher einmal durch den Suff Pleite gegangen. Ich unterschrieb immer alles, was er mir hinhielt, denn ich hatte gar keine Zeit, mir das alles genau durchzulesen. Und diese Gutgläubigkeit war dann allerdings später der Grund für meine ganzen Schwierigkeiten.«
Kolbrún trank einen Schluck Wasser. Sie hörten, dass der Amtmann und Birkir in der Mansarde waren und sich dort umsahen. Kolbrún blickte zur Decke und schüttelte den Kopf.
»Was für Schwierigkeiten?«, fragte Gunnar.
»Der Kiosk lief gut«, sagte Kolbrún, als hätte sie die Frage gar nicht gehört. »Damals wurde das Viertel gebaut, und all die Handwerker dort waren prima Kunden. Mittags habe ich eine Suppe gekocht, zusammen mit einem Sandwich war das ein sehr beliebtes Mittagessen. Abends war meist sehr viel weniger Betrieb, deswegen beschlossen wir, Spielautomaten aufzustellen und eine Lottoannahmestelle einzurichten, um damit weitere Kunden anzulocken. Leider war mir nicht klar, dass der Mann, mit dem ich zusammen lebte, auch ein leidenschaftlicher Spieler war. Wenn wenig los war, hing er selber vor den Automaten. Und außerdem hat er Unsummen im Lotto und Fußballtoto durchgebracht. Wenn er eine größere Summe gewonnen hatte, erzählte er mir davon und war superglücklich, aber was bei diesem Quatsch draufging, hat er nicht ausgerechnet. Zum Schluss hatte seine Spielleidenschaft ihn total in den Krallen. Innerhalb eines einzigen Monats schaffte er es, eine Riesensumme zu verspielen. Das war genau das Geld, das für die Abbezahlung der Darlehen gedacht war, die wir für den Kauf des Kiosks aufgenommen hatten. Und für die Steuern und die Rechnungen war ebenfalls nichts mehr übrig. Daraufhin fing der Typ wieder an zu trinken und machte sich eines Tages mit dem Rest des Geldes aus dem Staub. Seitdem habe ich diesen verdammten Idioten nie wieder gesehen.«
Kolbrún grinste bitter und kippte den Rest aus dem Wasserglasin die Spüle. Dann fuhr sie fort: »Ich habe lange Zeit gebraucht, bis mir die finanzielle Situation wirklich klar wurde, aber als ich endlich Durchblick
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