Bevor der Morgen graut
»Wo warst du gestern Morgen zwischen fünf und acht?«
»Ich?«
»Ja.«
»Ich war … zu Hause, habe geschlafen.«
»Kann das jemand bestätigen?«
»Meine Frau … sie ist in London, deswegen war ich allein zu Hause.«
»Kinder?«
»Nein. Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich etwas damit zu tun habe?«
»Diese Frage müssen alle Mitarbeiter in der Kanzlei beantworten. Irgendjemand muss ja schließlich den Anfang machen, nicht wahr?«
»Ich verstehe.«
»Du hast gewusst, dass Ólafur gestern Morgen auf Gänsejagd gehen wollte. Haben noch andere hier im Büro das gewusst?«
»Er hat bestimmt der Sekretärin an der Rezeption Bescheidgesagt, dass er später kommen würde. Einige Mitarbeiter wissen, wo er jagt. Es ist aber vollkommen ausgeschlossen, dass jemand von uns etwas damit zu tun hatte.«
»Gut zu wissen«, sagte Gunnar, »aber jetzt möchte ich gerne mit den anderen reden. Bitte schick sie zu mir herein, einen nach dem anderen, in alphabetischer Reihenfolge.«
10:05
B irkir fuhr in den Stadtteil Grafarvogur, wo sich das Haus von Ólafur Jónsson und seiner jungen Ehefrau befand. Ein moderner Neubau mit großen Fenstern. Das Haus war noch nicht gestrichen, und der Garten um das Haus erst zum Teil angelegt.
In der Nähe des Hauses war kein Parkplatz zu finden, deswegen musste Birkir in einiger Entfernung parken und zu Fuß zurückgehen. Er betätigte die Türklingel und hatte seinen Dienstausweis gezückt, als eine junge Frau den Kopf durch die Tür steckte.
»Mein Name ist Birkir, und ich bin von der Kriminalpolizei«, stellte er sich vor und fragte anschließend: »Bist du die Ehefrau des Verstorbenen?«
»Nein, ich bin ihre Schwester«, antwortete die Frau, die wie zum Schutz halb hinter der Tür stand.
Birkir warf einen Blick in sein Notizbuch und fragte: »Ist Helga zu sprechen?«
Die junge Frau sah ihn unschlüssig an. »Sie hat sich hingelegt.«
Dann drehte sie sich um und rief ins Haus: »Mama, hier ist ein Ausländer, der nach Helga fragt. Er sagt, er sei von der Kriminalpolizei.«
Kurze Zeit später erschien eine Frau, die auf die sechzig zuging, in der Tür.
Birkir erklärte: »Es ist sehr wichtig, dass ich Helga ein paar Fragen stellen kann, ich komme wegen der Ermittlung.«
»Was gibt’s denn da zu ermitteln?«, fragte die ältere Frau. »Ist dieser schreckliche Bauer denn immer noch nicht festgenommen worden?«
»Nein, bislang ist niemand festgenommen worden.«
»Aha, ihr wollt also warten, bis er noch jemanden erschießt?«
»Es liegt im Augenblick kein Belastungsmaterial vor, dass der Pächter auf Litla-Fell verantwortlich für den Tod von Ólafur ist, falls du darauf anspielst«, sagte Birkir. »Darf ich hereinkommen?«
Die Frauen im Eingang traten zur Seite, damit Birkir eintreten konnte.
»Habt ihr vielleicht einen besonderen Grund für den Verdacht, dass Guðjón die Tat begangen hat?«, fragte Birkir, als er ins Wohnzimmer kam. »Etwas, was uns bei der Ermittlung weiterhelfen könnte?«, fügte er hinzu.
Die ältere Frau antwortete: »Ólafur hat uns gesagt, dass man sich vor dem Mann in Acht nehmen müsse. Die Situation dort hatte sich so zugespitzt, dass er sogar seine Kinder nicht mehr mitgenommen hat. Ólafur hat nur darauf gewartet, ihn endlich loszuwerden.«
»Hat Guðjón ihm gedroht?«
»Ólafur hat uns bestimmt nicht ohne Grund gewarnt. Er selber behauptete, keine Angst zu haben, er ging allerdings ja auch nie in die Nähe des Hofes, und außerdem war er bewaffnet. Das war aber offensichtlich nicht genug. Dieser Mann in seinem primitiven Haus ist doch eine richtige Bestie.«
Im Wohnzimmer saßen einige elegant gekleidete Frauen unterschiedlichen Alters und tranken Kaffee. Einige schautenBirkir neugierig an, andere schenkten ihm keinerlei Beachtung. Weiße Blumensträuße waren auf zahlreiche Vasen verteilt.
»Hatte Ólafur keine anderen Feinde?«, fragte Birkir.
»Nein, selbstverständlich nicht. Alle mochten ihn gern. Und jetzt ist meine kleine Tochter mit fünfundzwanzig Jahren Witwe geworden.« Die Stimme versagte ihr, und sie brach in Tränen aus.
»Könnte ich vielleicht mit ihr sprechen?«, fragte Birkir.
»Ich kann dir alles sagen, was wir wissen«, entgegnete die Frau. »Helga ist vorhin endlich eingeschlafen, nachdem sie die ganze Nacht kein Auge zugetan hat. Ich habe ihr schließlich eine Schlaftablette geben müssen.«
Birkir gab es auf. »Ich komme dann später wieder«, sagte er und verabschiedete sich.
11:45
N ach
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