Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bevor der Morgen graut

Bevor der Morgen graut

Titel: Bevor der Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingolfsson
Vom Netzwerk:
konnte mitunter schwierig sein, sie von einer einmal gefassten Meinung abzubringen. Anna begrüßte sie kurz angebunden und zündete sich eine Zigarette an. Die relativ kleine Frau trug einen weißen Kunststoffoverall und dünne Gummihandschuhe. Sie sah so aus, als sei sie mindestens siebzig, aber Birkir wusste, dass sie erst Mitte fünfzig war. Vierzig Jahre Rauchen hatten ihr zugesetzt, ihr hageres Gesicht war faltig, und unter den müde wirkenden grauen Augen lagen dunkle Ringe. Aber bei der Arbeit drehte es sich nicht ums Aussehen. Innerhalb des Erkennungsdienstes hatte sie die meiste Erfahrung, und nach Birkirs Meinung war sie die Beste. Er war froh, sie dort zu sehen, denn normalerweise übernahm sie höchst selten die Spurensicherung am Tatort, und schon gar nicht irgendwo auf dem Lande.
    »Kannst du uns schon etwas sagen?«, fragte Gunnar.
    Anna nahm sich Zeit für ein paar Züge an der Zigarette, bevor sie antwortete: »Hier sind auf einem begrenzten Gebiet zahlreiche Schüsse abgefeuert worden. Der hier hat einige davon abbekommen.« Ihre Stimme war dunkel und rau. Sie deutete mit der Zigarette auf die Leiche und fuhr fort: »Einige Schüsse erfolgten aus größerer Distanz, vierzig Meter oder vielleicht sogar mehr. Die Schrotgarben wurden vom Anorak aufgefangen.« Sie bückte sich und deutete auf einige kleine Löcherim Anorak. »Dann aber hat ein Schuss aus nächster Nähe ihm das Bein abgerissen, Entfernung vermutlich drei bis sechs Meter, aber das müssen wir noch genauer feststellen. Zum Schluss wurde ihm aus allernächster Nähe in den Kopf geschossen, weniger als ein Meter Entfernung.« Sie schnippte die Zigarettenasche in eine leere Filmhülse.
    »Coup de grâce«, sagte Birkir.
    »Kuh – was?«, fragte Gunnar.
    »Gnadenschuss«, sagte Birkir, »das ist französisch, glaube ich.«
    »Und dann hat er sich noch ein Souvenir mitgenommen«, sagte Anna, »oder zumindest hat es den Anschein für mich.«
    »Was meinst du damit?«, fragte Gunnar.
    Anna inhalierte den letzten Zug aus der Zigarette und drückte sie in der Filmhülse aus, die sie anschließend verschloss und in die Tasche steckte.
    »Seht mal hier«, sagte sie, indem sie sich über die Leiche beugte und am Anorak auf ein Loch mit unregelmäßigen Rändern deutete, und zwar direkt über der Stelle, wo sich das Herz befand. Das Außenmaterial war weg, und man sah nur das weiße Futter darunter.
    »Der Mörder hat die äußere Stofflage angehoben und dieses Stück abgetrennt.«
    »Wozu?«, fragte Gunnar.
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, entgegnete Anna.
    »Dieses Loch ist also vorher nicht da gewesen?«, fragte Birkir.
    »Nein, das ganze Kleidungsstück ist über und über mit Blut bespritzt, aber das Futter hier ist ganz sauber«, sagte Anna. »Es handelt sich auch um ein ziemlich neues und wenig getragenes Teil.«
    Gunnar sagte: »Vielleicht hat er das als Trophäe mitgehen lassen. So wie Jäger die Schwänze von Nerzen mitnehmen, die sie erlegt haben.«
    »Vielleicht«, sagte Anna.
    Gunnar fragte: »Hast du irgendeine Vorstellung, wie sich das Ganze hier abgespielt hat?«
    Anna deutete auf die niedrigen Mauerreste einer alten Hausruine in der Nähe. »Der Jäger hat dort im Schutz dieser Hausruine gesessen und darauf gewartet, dass die Gänse in Schussweite kamen. Da steht noch sein Ansitzstuhl, so ein faltbarer und leicht zu transportierender, und dort liegt auch das Gewehrfutteral. Seine Lockvögel stehen noch im Kartoffelacker, und soweit ich sehen kann, ist einer von einem Schuss aus beträchtlicher Entfernung getroffen worden. Einer oder vielleicht mehrere haben dann auf den Mann geschossen, hier vom Graben aus, aber auch von etwas weiter oben am Hang.« Sie wies mit einer Kopfbewegung in die betreffende Richtung.
    »Die Schüsse vom Hang haben den Mann aus seinem Unterstand hinausgetrieben. Der Schuss, der ihm das Bein abgerissen hat, kam aber mit Sicherheit hier aus dem Graben, auch der Schuss, mit dem der Hund getötet wurde. Entweder ist der Angreifer außerordentlich wendig und schnell gewesen, oder es waren zwei.«
    »Weißt du schon etwas über die Munition?«
    »Ja, wir haben sowohl im Graben als auch am Hang leere Patronen gefunden. Sie sind alle von der gleichen Sorte, rote Federal Premium für ein Schrotgewehr vom Kaliber 12. Wir müssten eigentlich klären können, ob alle Schüsse aus dem gleichen Gewehr abgefeuert wurden. Falls das Gewehr auftaucht, können wir sicherlich feststellen, ob die Schüsse daraus

Weitere Kostenlose Bücher