Bevor der Tod euch scheidet (German Edition)
sie nicht leiden können – was vor allem damit zusammenhing, dass sie es als Frau wagte, sowohl gemeinsam mit der Polizei als auch völlig eigenständig Verbrechen aufzuklären. Für ihn war sie ein Eindringling in eine Männerdomäne, und sie mischte sich seiner Ansicht nach in polizeiliche Angelegenheiten ein. Damit hatte er keinen Zweifel daran gelassen, dass er eine antiquierte und traditionelle Vorstellung davon hatte, welchen Platz eine Frau in der Gesellschaft einnehmen sollte. Und genauso missfiel ihm, dass sie eng mit Bragg zusammenarbeitete und Einfluss auf ihn ausübte. Mit jedem neuen Fall hatte sich der Schleier etwas mehr gelichtet, hinter dem er seine Feindseligkeit ihr gegenüber versteckt hielt.
Am gestrigen Abend war er so überheblich gewesen, dass seine Verachtung ihr gegenüber deutlich zutage getreten war. „Sarah, was hat Farr gesagt, als er herkam?“ Woher hatte Farr überhaupt von dem Diebstahl gewusst?
Sarah machte einen etwas ratlosen Eindruck. „Naja, also … Er sagte, er sei fest entschlossen, das Porträt zu finden und den Dieb dingfest zu machen.“
Francesca fasste Sarahs Arm. „Hör zu! Bragg hat diesen Fall keinem seiner Leute übertragen. Wir haben absichtlich niemanden eingeweiht. Woher wusste Farr von dem Diebstahl?“
„Das kann ich dir auch nicht sagen“, antwortete ihre Freundin. „Ich glaube, er kam am nächsten Tag her, und danach noch zwei Mal, alles innerhalb einer Woche. Er gab sich schrecklich besorgt und interessiert.“
„Farr hat sich drei Mal mit dir unterhalten? Er muss gewusst haben, dass es sich um mein Porträt drehte. Hast du es ihm gesagt?“ Sonst wäre ihm der Diebstahl doch völlig egal gewesen!
Eine blasse Sarah sah sie stumm an.
Wenn Farr gewusst hatte, dass das Gemälde Francesca zeigte, war es keine Überraschung, dass er gleich drei Mal hierhergekommen war. Er wollte auf dem Laufenden sein und ihr möglicherweise Ärger bereiten. Sie schaute Sarah an, als ihr ein schrecklicher Gedanke kam. „Sarah, sag mir jetzt bitte, dass du ihm nicht verraten hast, dass es sich um ein Aktgemälde handelt!“
Daraufhin wurde Sarah noch bleicher.
„Sarah!“
„Ich habe kein Wort davon verlauten lassen!“, rief ihre Freundin aus. „Aber ich war so aufgebracht, dass er nach dem Grund fragte. Daraufhin erklärte ich ihm, das Porträt sei in höchstem Maß kompromittierend und dürfte niemals öffentlich ausgestellt werden.“
Francescas Entsetzen kannte keine Grenzen mehr.
Das Polizeipräsidium lag nicht weit von den grässlichen Slums von Mulberry Bend entfernt. Das warme Wetter hatte zur Folge, dass ein unangenehmer Geruch über dem Viertel lag. Als Francesca aus der Kutsche ausstieg, musste sie sich ein Taschentuch vor Mund und Nase halten. Braggs schwarzer Daimler parkte vor dem vierstöckigen Backsteingebäude und wurde von zwei Streifenpolizisten mit blauer Uniform und Lederhelmen bewacht. Vor einigen Monaten, als Bragg seinen Posten als Police Commissioner angetreten hatte, hatte das Gefährt noch für ein regelrechtes Spektakel gesorgt. Heute nahm niemand mehr weiter Notiz von dem Automobil. In den Straßen ringsum trieben Gauner und Taschendiebe, Straßenräuber und Prostituierte nicht länger ihr Unwesen; Bragg war entschieden gegen die kriminelle Szene vor seiner Haustür vorgegangen. Die kleinen Verbrechen spielten sich längst woanders ab.
Als Francesca aus der Kutsche ausstieg und Jennings zurück nach Hause schickte, da sie für den Rest des Tages Droschken nehmen würde, fragte sie sich, ob es wohl Hoffnung auf eine Zukunft gab, in der diese Stadt frei von Verbrechen sein würde. Solange aber diese grässlichen Behausungen existierten, hielt Francesca eine solche Zukunft für unmöglich. Die Menschen lebten hier unter schrecklichen Bedingungen: Es gab nicht genügend Licht, kaum frische Luft und kein fließendes Wasser. Viele der Einwanderer sprachen kein Wort Englisch und arbeiteten für ein paar Pennys am Tag. Die Slums ließen Verzweiflung aufkommen, die wiederum Verbrechen nach sich zog.
Francesca warf einen flüchtigen Blick zu den Sergeants am Empfang und den drei Leuten im Warteraum, die hergekommen waren, um sich wegen irgendeiner Sache zu beschweren. In der Arrestzelle saßen zwei Bettler und schliefen tief und fest. Die übrigen Holzstühle und -bänke waren allesamt frei. Offenbar war dieser Sonntag besonders ruhig, denn sonst hielten sich um diese Zeit längst die Reporter hier auf, die auf eine gute Geschichte
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