Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Windstoß hebt die Haare von seinen Schultern. Dann fällt der Schuss. Mickes Körper zuckt zusammen, scheint noch einen Moment zu zögern, dann fällt er zu Boden, verhältnismäßig sanft, neben seine Mutter. Als habe er sich zum Schlafen neben sie gelegt, ruht sein Kopf auf ihrem Arm. Aber eine große Blutlache um seinen Kopf herum verrät, dass er tot ist. Neben seiner halbgeöffneten Hand liegt die Pistole. Der kleine Hund springt unruhig und kläffend um die Toten herum.
Stefan ist hier. Er lächelt, sieht genauso aus wie immer. Seine Haare sind frischgewaschen und glänzend, und der Pony fällt über sein rechtes Auge. Seine Zähne sind weiß. Er reicht mir seinen Arm. Stark und warm und lebendig streckt sich der Arm nach mir aus, und plötzlich weiß ich, dass ich hier wegmuss. Raus aus diesem Raum. Weg von den Schatten, die mit jeder Sekunde lebendiger zu werden scheinen. Weg von der Vergangenheit. Zurück ins Leben, dem Leben, das mir gehört.
Auf irgendeine Weise kann ich auf die Füße kommen. Der Raum dreht sich noch immer, und meine Beine zittern, wollen nicht gehorchen. Ich steige unsicher über Micke und seine Mutter hinweg und trete in die immer größer werdende Blutlache. Dann laufe ich nach oben, packe die Haustür und kann den Riegel öffnen.
Die Kälte schlägt mir entgegen, und eine einsame Schneeflocke landet auf meiner Wange. Ich gehe hinaus und weiter über den Trampelpfad. Meine Strümpfe hinterlassen in der dünnen Schneedecke rote Spuren.
Ich ahne eine Bewegung und hebe vorsichtig den Kopf. Wie durch einen langen Tunnel sehe ich ein Auto. Einen neuen glänzenden BMW . Die Tür zum Fahrersitz öffnet sich, und ein Mann steigt aus. Er kommt mir vage bekannt vor, kehrt mir aber den Rücken zu. Nimmt eine Jacke aus dem Wagen und zieht sie an. Dann dreht er sich um und schaut mich an. Und jetzt sehe ich, wer es ist.
Ulrik.
Seine Miene verändert sich, und er ruft etwas. Ich weiß nicht was. Ich kann aus den Tönen kein Wort zusammensetzen. Sehe nur, wie seine Lippen sich bewegen.
Ohne weitere Gefühle registriere ich, dass er entsetzt aussieht, ein Mobiltelefon aus der Tasche zieht und ein Gespräch führt. Weitere Schneeflocken fallen auf mich. Ich spüre, wie sie sich in meinen Haaren sammeln, wie sie auf meinen Wangen und Lippen schmelzen.
Ulriks Mund bewegt sich rasch, er gestikuliert wild, und ich höre, wie er eine Adresse nennt. Amorväg. Ja, es muss Amorväg sein. Dann steckt er das Telefon in seine weite Jacke und kommt auf mich zu.
Das Gefühl, in einem Tunnel zu sein, wird langsam schwächer. Plötzlich fühle ich mich stärker. Die kalte, frische Luft scheint mir Kraft zu geben. Eine Kraft, die wächst, je weiter ich mich von dem Haus entferne.
Plötzlich kommt mir alles lichter vor. Die Farben sind klarer. Der Schmerz kehrt zurück in Handgelenk und Schulter, aber ich gehe immer weiter. Setze mechanisch einen Fuß vor den anderen. Merke, wie meine Füße in der Kälte gefühllos werden. Gehe weiter auf das Tor zu, fort von dem weißen Klinkerhaus. Fest entschlossen, das zurückzuerobern, was von meinem Leben noch übrig ist.
Epilog
Stockholm 2005
Unter der Oberfläche gab es keinen Schmerz. Kein Richtig oder Falsch. Die Vergangenheit existierte nicht mehr, und die Zukunft war unwichtig. Unter der Oberfläche gab es nur das Jetzt. Als Stefan nach oben blickte, ahnte er über der alles umschließenden Umarmung des Wassers das Sonnenlicht. Er wusste, dass die Wirklichkeit dort oben war, aber er wollte nicht mehr dorthin.
Er hatte beschlossen, allem ein Ende zu setzen. Hier unten gab es eine Ruhe, und wenn er es sich aussuchen könnte, würde er für alle Ewigkeit hierbleiben. Er wusste, dass es nicht so sein würde. Sein Leichnam würde geborgen werden und in einem Kühlraum der Rechtsmedizin enden. Sein Körper würde obduziert werden. Die Organe gewogen und gemessen. Aber das spielte keine Rolle mehr. Sein Körper war eine Maschine, und sie würde aufhören zu funktionieren. Und das, was sein Ich war, würde aufhören zu existieren. Und dann würde auch der Schmerz ein Ende nehmen. Er sehnte sich danach, den Schlusspunkt setzen zu dürfen.
Wann war alles schiefgegangen? Als er zum ersten Mal in das staubige Klassenzimmer gegangen war und sich auf den einzigen freien Platz gesetzt hatte? Den Platz neben dem großen Jungen mit den breiten Schultern und dem Band aus Sommersprossen über der kräftigen Nase? Oder vielleicht später, als er, Anders, Ulrik und Arvidsson
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