Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Wohnzimmer auf dem Fußboden. In der Hand hält er einen blauen Plastiktopf und rührt mit einem Holzlöffel darin herum. Er ist in sein Spiel vertieft und schaut mit höchster Konzentration in den Topf. Draußen strahlt die Sonne, und Schmelzwasser tropft vom Dach auf die Fensterbank. Es sind drei Grad über null.
Markus ist schon längst zur Arbeit in die Stadt gefahren, und ich lasse mich aufs Sofa fallen und greife zu meinem Laptop. Markus hat erzählt, dass eine Reportage über den Mord an Anders Holmberg in einer dieser Sendungen über ungelöste Verbrechen gesendet worden ist. Vor nicht allzu langer Zeit. Und die will ich sehen.
Ich sehe ja ein, dass ich von dieser Sache so langsam besessen bin. Als ob ich, wenn ich mehr über Anders Holmberg erfahre, auch die Antwort auf die unmögliche, immer wieder quälende Frage finden könnte: Warum ist Stefan gestorben? Und das alles, obwohl ich geglaubt hatte, mich mit der Ungewissheit abgefunden zu haben und mich in der Tatsache auszuruhen, dass mein Leben weitergegangen ist.
Aber ich weiß ja, dass ich eigentlich loslassen müsste, die Kartons oben auf dem Dachboden verschließen und die Toten in Ruhe lassen müsste, aber ich bringe das einfach nicht über mich.
Ich muss es wissen.
Das Gespräch mit Maj, die Sache mit Stefans Jugendfreund Anders und die regelmäßigen Treffen mit einem unbekannten »A«, die sofort nach Anders Holmbergs Tod ein Ende nahmen, lassen mich einen Zusammenhang ahnen. Das und die Tatsache, dass Stefan mir nie von Anders und seinem Tod erzählt hat. Auf irgendeine Weise hängt alles zusammen.
Das weiß ich.
Rasch finde ich das, was ich suche. Eine Reportage über den ungeklärten Mord an Anders Holmberg kam vor einem knappen Monat in Das Verbrechen der Woche . Ich klicke mich bei SVT Play ein, und es geht los. Ich habe mir diese Sendung noch nie angesehen. Ich will keine Schilderungen von Gewalt und Tod ansehen müssen. Vielleicht, weil ich in meinem eigenen Leben genug davon hatte. Eine Moderatorin kündigt die Reportage an, und neben ihr sitzt ein bekannter Professor mit offenbar enzyklopädischen Kenntnissen über Verbrechen und Strafe.
Die Kommentatorenstimme setzt ein, und Bilder von Anders Holmberg wechseln sich ab mit Aufnahmen eines windigen, vereisten Spazierwegs in der Nähe des Karlaplan auf Östermalm, einem von Stockholms angesagtesten Vierteln. Dann kommt eine Frau ins Bild, sie ist in meinem Alter. Gesträhnte blonde Haare, blaue Augen. Ihr Blick ist blank.
Das ist Anders Holmbergs Frau.
»Ich kann nicht verstehen, wer ihm etwas antun wollte. Anders hatte keine Feinde. Er war ein ganz normaler Mensch. Wir haben ein normales Leben geführt. Er hatte keine Feinde. Nichts Ungewöhnliches.«
»Die Polizei ist lange von einer Verwechslung ausgegangen, dass Anders einfach mit einem anderen verwechselt wurde. Was sagen Sie dazu?« Jetzt eine weibliche Stimme. Sanft, einfühlsam. Vielleicht die Moderatorin.
»Das ist die einzige Erklärung, die logisch wirkt. Eine andere Antwort gibt es nicht.« Rasch blinzelt die Frau eine Träne weg. Und in ihrem Blick finde ich meine eigene Verwirrung und Leere. Das Gefühl, dass etwas zerbrochen ist und niemals wieder heil werden kann. Verwirrung und Sehnsucht nach einer Antwort, einer Erklärung.
Dann Schnitt, und wir sind wieder im Studio. Die Moderatorin wendet sich dem Professor zu.
»Ja, der so genannte Karlaplanmord ist ja noch immer nicht aufgeklärt. Wurde Anders Holmberg das Opfer einer Verwechslung?«
Der Professor hustet und atmet besorgniserregend schwer.
»Das ist eine mögliche Erklärung, aber ich weiß nicht. Sie kommt mir doch gesucht vor. Meistens ist die einfachste Erklärung auch die wahrscheinlichste.« Abermals hustet er.
»Was ist also Ihre Theorie?«
»Wenn wir hier herschauen, sehen wir den Weg des Opfers.«
Der Professor hat sich mühsam erhoben und zeigt auf eine Luftaufnahme der Umgebung, lässt den Finger über eine gestrichelte Linie wandern.
»Hier geht er durch den Gustaf-Adolfs-Park, eigentlich also nicht beim Karlaplan, wenn man pingelig sein will. Der Karlaplan liegt noch hundert Meter weiter. Genau hier, bei der Kirche, wird er erschossen. Hier scheint jemand auf ihn gewartet zu haben, jemand, der seine Gewohnheiten kannte und wusste, dass er immer diesen Heimweg nahm.«
»Ein Überfall, der aus dem Ruder gelaufen ist?«
»Wenn er erstochen worden wäre, könnte ich das vielleicht glauben. Das hier ist eine typische Stelle für einen
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