Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
ihrer langsamen Sprechweise.
»Ja. Das ist phantastisch.«
»Ich wollte kurz zur Bäckerei und zur Besprechung um drei ein bisschen Kuchen kaufen. Was möchtest du?«
»Danke, aber ich bin nicht in Kuchenstimmung. Aina und Sven wollen sicher etwas.«
Marianne macht ein verwirrtes Gesicht.
»Kuchenstimmung? Was ist das denn?«
Ich zögere eine Sekunde, weiß nicht, wie ich mit dieser Frage umgehen soll.
»Na gut, ich nehme auch eine Zimtschnecke«, antworte ich und verspüre eine plötzliche Resignation angesichts von Mariannes verminderter Fähigkeit, die feinen Nuancen in der zwischenmenschlichen Kommunikation zu erfassen. Aber meine Antwort scheint sie zufriedenzustellen, denn sie schließt die Tür, und ich kann hören, wie sie auf dem Weg zur Ausgangstür pfeift.
Ich greife zu meinem Mobiltelefon und rufe Anna Kantsow an. Es klingelt dreimal, dann antwortet jemand.
»Peter.«
»Entschuldigung«, sage ich. »Da habe ich mich wohl verwählt.«
»Kann sein«, sagt die Stimme und schweigt dann.
Ich räuspere mich und mache einen neuen Anfang.
»Ich heiße Siri Bergman und würde gern mit Anna Kantsow sprechen, ist sie in der Nähe?«
»Ich weiß, wer Sie sind. Anna hat das erzählt. Sie … meine … Anna ist … tot.«
Ich sitze in meinem Sprechzimmer auf dem Boden, halte das Telefon in der Hand und kann nicht aufhören zu zittern. Ich kann nicht begreifen, was Peter da erzählt hat. Dass Anna auf dem Weg zu ihm durch das Eis gebrochen ist, dass ein Boot, das spät in der Nacht dort vorüberkam, sie zwischen den Eisschollen am Rand der Fahrrinne gefunden hat. Dass die Feuerwehr ihren festgefrorenen Leichnam freihacken musste.
Die Polizei glaubt, dass es ein Unfall war, aber Peter ist sicher, dass jemand sie ins Wasser gestoßen hat. »Ihre Tasche lag fünfzig Meter weiter, und ihr Telefon wurde nur drei Meter entfernt im Schnee gefunden. Und bei einem Unfall hätte sie doch Telefon und Tasche bei sich gehabt? Anna war diesen Weg mindestens hundertmal gegangen und wusste genau, wo die Fahrrinne verläuft. Sie ist bestimmt nicht aus Versehen hineingefallen.«
Selbstmord? Nein, an Selbstmord glaubte er nun wirklich nicht. Sie war glücklich. Sie waren glücklich. Jetzt war sie fort, und er hatte nur ihre Kleider und ihre Bücher und ihr Telefon, das die Polizei ihm in einer Beweistüte aus braunem Papier überreicht hat.
Ob ich verstehen könne, was das für ein Gefühl sei?
Nein, natürlich konnte ich das nicht verstehen.
Und während des ganzen Gesprächs spürte ich die unausgesprochene Anklage. Ich hatte etwas Böses und Gefährliches in Annas geborgenes, organisiertes Dasein gebracht. Ich hatte die Tür zu etwas geöffnet, das sie seit Jahren mit großer Mühe auszusperren versucht hatte.
Langsam schlage ich mit dem Hinterkopf gegen die Wand in dem Versuch, mich von den Bildern zu befreien, die sich wie ungebetene Gäste aufdrängen. Anna im schwarzen Wasser. Festgefroren. Eiskristalle auf den blauen Lippen. Das Telefon, das nur wenige Meter weiter vergeblich klingelt.
Peter hat mich gefragt, ob ich wüsste, wer Anna verfolgt hat. Ich habe wahrheitsgemäß geantwortet, dass ich zwar keine Ahnung habe, aber wüsste, dass Anna selbst dachte, es hinge auf irgendeine Weise mit unserem Gespräch über den Mord im Park vor fünf Jahren zusammen.
Ich schlage die Hände vors Gesicht. Ein Unfall? Natürlich war es kein Unfall. Und plötzlich weiß ich, was ich zu tun habe. Ich kann jetzt nicht loslassen, es hat zu viele Menschen das Leben gekostet. Stefan, Anders und jetzt auch Anna.
Es ist an der Zeit, die Wahrheit zu finden.
Es ist an der Zeit, zumindest eine Art Frieden zu erlangen.
Ich habe zu Hause auf dem Boden die Zeitlinie ausgebreitet. Daneben liegt das Jahrbuch des Norra Real Gymnasiums. Ich schiele zum Spiegel zwischen den Fenstern hinüber, sehe mich in Stefans altem T-Shirt.
Alle anderen Papiere, Gegenstände und jeden Kleinkram habe ich im Karton gelassen. Ich brauche sie nicht mehr. Ich kenne jedes Wort, das dort geschrieben steht, auswendig. Stefans Habseligkeiten sind mir so vertraut, dass ich sie nicht bei mir haben muss, um mich an sie zu erinnern, dass ich sie nicht anzufassen brauche, um zu wissen, wie sie sich anfühlen.
Draußen ist es dunkel. Das Meer, das jetzt Stefan und Anna geholt hat, versteckt sich, lauert unter der dicken Schneedecke. Aus der Ferne ahne ich Licht im einsamen alten Haus auf Rönnskär, und weiter weg sehe ich das Blinken der Fernsehmasten in
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