Bewegt Euch
widerwärtigsten Geißeln des modernen Menschen, zumal so viele Informationen, Pflichten, Ansprüche auf uns eindonnern wie nie zuvor. Als es noch kein elektrisches Licht gab, ging der Jäger, Sammler, Bauer, Handwerker, Malocher ins Bett, sobald die Sonne verschwunden war, im Sommer gegen 22 Uhr, im Winter drei, vier Stunden früher. Die Nacht war vorbei, wenn der Hahn krähte, irgendwann zwischen 5 und 7 Uhr morgens.
Die längste dieser Nächte dauerte über zehn, die kürzeste immerhin noch sieben Stunden. Sieben Stunden Schlaf? Wer bekommt die heute regelmäßig? Dabei seien eigentlich acht Stunden Pflicht und erst neun wirklich gut, sagt der frühere Spitzenathlet Matthias Marquardt.
Wie oft gönne ich mir den Luxus der neun Stunden? Früher nie, inzwischen mindestens einmal die Woche.
Auch keine Zeit?
Füllst Du die Minute, jenen grausamen Tyrann, mit 60 Sekunden kühnen Laufens, so liegt Dir die Welt zu Füßen.
Rudyard Kipling – er lief die Meile in 4:30 Min
Neulich kam eine gute Freundin zum Essen, die begeistert von ihren Osterferien berichtete: Zehn Tage lang habe sie am Bodensee in einer Klinik zugebracht, wo sich auch Rundfunkintendanten und Parteivorsitzende in Form bringen. Ich erwartete hochmoderne Trainingsmethoden, Gerätschaften von der NASA, Geheimnisse aus Elite-Universitäten.
Die Antwort war enttäuschend: Jeden Morgen vor dem kalorienreduzierten Frühstück eine halbe Stunde Walken. Vormittags ein Gymnastikkurs an frischer Luft. Kalorienreduzierter Lunch. Mittagsruhe. Nachmittags Radfahren, gemäßigt, 90 Minuten. Kalorienreduziertes Abendessen. Um 22 Uhr ins Bett. Alles zusammen 4 000 Euro.
Klingt wie ein normaler Triathlon-Trainingstag, sieht man von der Kalorienreduzierung ab. Das Ergebnis begeisterte meine Freundin gleichwohl: vier Kilogramm abgenommen, tiefer Schlaf, schlagartiges Wohlgefühl, Spaß an der Bewegung. Ich wagte die Anmerkung, dass sie diesen Kurklinik-Lifestyle einfach in den Alltag einbauen müsse. »Völlig undenkbar«, erklärte sie entrüstet, »die Zeit habe ich einfach nicht.«
Ja, Bewegen kostet Zeit. Durch elegantes Kombinieren lassen sich Fahrten, Freunde, Familie zwar ganz gut unterbringen. Aber am Ende fehlt die tägliche Stunde doch oft irgendwo. Frühes Aufstehen hilft nur bedingt, weil unweigerlich mit früher Bettruhe verbunden. Ist die Stunde eben abends futsch.
Andererseits: Nicht-Bewegen kostet auch Zeit. Die negativen Folgen fortgesetzter Trägheit heißen Arztbesuch, Krankengymnastik, Ernährungsberatung oder zehn Tage Kurklinik.
Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami läuft an sechs Tagen der Woche je eine Stunde und gönnt sich am siebten Tag Ruhe. Kennt man aus der Bibel. Zwei bewegungsfreie Tage nacheinander versucht er zu vermeiden, weil ihm diese lange Pause einfach nicht guttut.
So geht es mir auch. Ich will mich bewegen, jeden Tag, unverhandelbar und alternativlos. Ich brauche das. Andererseits bin ich nicht der Typ, der mit der Stirnlampe durch die nächtlichen Straßen wackelt. Früh aufstehen grenzt für mich an Menschenrechtsverletzung. Deswegen muss die Zeit woanders herkommen.
Seit Jahren feile ich an meinem Stundenplan, probiere, ändere, verwerfe. So langsam habe ich meinen Bewegungsrhythmus gefunden. Das Geheimnis: maximale Flexibilität. Was für morgens geplant war, aber wegen aufkeimender Kinderkrankheit nicht klappt, ist abends vielleicht drin. 20-Minuten-Einheiten im Schlafzimmer mit Sit-ups und Liegestütz zählen auch. Das Fitness-Studio in der Nähe ermöglicht eine Dreiviertelstunde konzentrierter Qualfreude. Und Trainingspartner, die nicht böse sind, wenn ich kurzfristig absage, sind ein Geschenk des Himmels.
Mein Bewegungsdrang hat mir inzwischen sogar mehr freie Zeit eingebracht. Weil ich realistischer plane. Weil ich den Fernseher ausgeschaltet lasse. Weil ich den Rechner zuklappe. Weil ich erst um 21 Uhr zu Einladungen gehe und nicht um 19 Uhr. Weil ich die Tugend des Neinsagens entdeckt habe.
Brutales Zeit-Management ist gefragt, wenn ein großer Wettbewerb ansteht. Als ich mich für meinen ersten Marathon vorbereitete, war mit ein paar Viertelstunden hier und da nicht viel geholfen. Das soziale Leben litt, der Beruf litt, meine Laune litt und am Ende vor allem meine Gesundheit, weil ich die Trainingsstunden beim Schlaf abzwackte, der aber gerade in Phasen hoher Belastung doppelt wichtig ist.
Das Resultat waren Herpes, Infekte, massiv schlechte Laune und die Erkenntnis: Ich bekomme ein
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