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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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atmend. »Hast du gelesen, was der Sachverständige sagt?« Er sah zu Manuel auf. Der nickte langsam, ohne etwas zu sagen. Dieses Gutachten war zu dem Ergebnis gekommen, dass Ketschmar voll schuldfähig sei und zu Jähzorn neige. Zwar müsse ihm angesichts der nahezu 1-jährigen Arbeitslosigkeit und der frustrierenden Vorstellungsgespräche ein erheblicher Affektstau zugute gehalten werden, doch sei dies bei einem Menschen seines Intelligenzquotienten kein Grund, ihm verminderte Schuldfähigkeit zuzubilligen.
     
    Fast einhundert Seiten hatte der Psychiater gebraucht, um ihn mit eleganten Formulierungen, gespickt mit lateinischen Begriffen aus der Medizin, in die Hölle zu schicken. Ketschmar schloss die Augen und erschauerte über die Arroganz, mit der der Gutachter über ihn befunden hatte. Einen ganzen Tag lang hatte er mit ihm über seine innersten Gefühle gesprochen, über seine Ängste, seine Kindheit und die vergangenen Monate, in denen er bei den Vorstellungsgesprä­chen gedemütigt worden war. Ketschmar hatte immer wieder beteuert, dass er nicht Grauers Mörder war. Doch der überhebliche Gesichtsausdruck des Psychiaters verriet ihm, dass er auf verlorenem Posten kämpfte. Sie wollten doch nur Beweise für seine Schuld sammeln. Wen interessierte denn, was er sagte? Er war zum Lügner gestempelt, weil es erdrückende Indizien gab. Und dafür hatte der Gutachter Argumente zusammengetragen, die das Gericht überzeugen würden. So war es doch schon früher gewesen. Damals, als er sich in der Schule, schüchtern und ängstlich, schwer damit getan hatte, frei zu reden und zu argumentieren. Diejenigen, die bereits gewandt formulieren konnten, waren den anderen um Längen voraus gewesen. Schon damals spürte er, dass nicht unbedingt die Tatsachen zählten, sondern die besseren Argumente und wie sie vorgetragen wurden. Jetzt aber war er wieder der kleine Bub, den die Großen, in diesem Fall die allmächtigen Juristen und Sachverständigen, zu einem Objekt gestempelt hatten, das es zu begutachten galt. Was wussten die schon, wie es tief in ihm drinnen aussah? Was ging die das überhaupt an? Warum, verdammt noch mal, sahen sie in ihm nur den Lügner und nicht den Menschen? Mach dir nichts vor, dröhnte es in seinem schmerzenden Schädel, sie haben Speichel auf Grauers Pullover gefunden. Da kommst du nicht mehr raus. Nie mehr. Und sie haben den Spanngurt aus deinem Kofferraum. Und die Drohbriefe. Und den Schaden am Auto. Kein vernünftiger Mensch kann an deiner Schuld zweifeln. Die Juristen nicht und die ehrenamtlichen Schöffen, deren Wege sich mit deinem kreuzen, schon gar nicht. Die werden sich langweilen, mit dem Einschlafen kämpfen, unruhig auf die Armbanduhr schielen und hoffen, dass dieser lästige Prozess rechtzeitig beendet sein würde, weil sie doch abends noch etwas vorhaben. Wer wird sich dann noch dein unsicheres Gestottere anhö­ren wollen? Deine Behauptungen, die so unwahrscheinlich klingen, dass die Richter den Kopf schütteln.
    Womöglich hätte Manuel jedem anderen Mandanten längst empfohlen, ein Geständnis abzulegen, um die Richter milde zu stimmen. Statt lebenslänglich nur 8 Jahre wegen Totschlags. Macht bei der üblichen Verbüßung von zwei Dritteln ja nur8 Jahre. Danach werden sie dich auf Bewährung rauslassen. Eine Zeit der Erniedrigung würde folgen. Regelmäßiges Melden, Bewährungshelfer. Und daheim alles verloren. Die Rente gering, weil nicht mehr einbezahlt. Und selbst gebrochen, krank, alt.
     
    Er hörte plötzlich Manuels Stimme. »Du brauchst keine Angst zu haben.« Es klang wenig überzeugend. Der junge Anwalt hatte dies selbst bemerkt, weshalb er selbstbewusster weiterredete: »Es wird sich alles aufklären, glaub mir.«
    Ketschmar hob ruckartig seinen Oberkörper und schlug mit der flachen Hand kräftig auf den Tisch. »Was soll sich denn aufklären? Was denn?«, schrie er, als würde jetzt alles aus ihm herausbrechen. Der uniformierte Aufpasser sah ihn grimmig an und schien sich darauf vorzubereiten, ihn zu bändigen.
    »Nichts wird sich aufklären«, tobte der gebrochene Mann los, »nichts. Sie haben doch mich. Ja – die haben ihren Mörder. Und alles ist so logisch. Und wenn du ehrlich bist, dann denkst du auch schon so.« Er hielt inne, denn es tat ihm bereits wieder leid, Manuel angegriffen zu haben. »Entschuldige«, sank er in sich zusammen. »Ich weiß, du tust dein Möglichstes.«
    Die beiden Frauen wischten sich mit Papiertaschentü­chern Tränen aus den Augen.

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