BIANCA EXKLUSIV Band 0174
aufbringen.
Einige Tage später fragte Tim erneut: „Sie sind die weite Strecke hergeflogen, nur um mit mir zu reden?“
Anne nickte. „Ja, denn ich fühle mich dafür verantwortlich, dass Sie hier in Kanada sind.“
Tim, der wochenlang im Freien gearbeitet hatte, sah sehr gesund und fit aus, wie Anne feststellte.
„Nein, Sie irren sich. Falls überhaupt jemand dafür verantwortlich ist, dann mein Vater.“ Tim lachte verächtlich auf. „Aber ihn braucht das ja nicht mehr zu kümmern.“
Anne wusste nicht, was sie sagen sollte. Tim fehlte der Vater. Wenn Frank noch lebte, würde vielleicht alles gut enden. Frank hätte seinem Sohn einiges erklären und ihm versichern können, wie sehr er ihn liebte. Doch Frank lebte nicht mehr, und weder Gloria noch John waren hier. Irgendwie musste Anne es bewerkstelligen, Tim in den Schoß der Westfield-Familie zurückzuführen. Das schuldete sie John und seinen Verwandten. Wahrscheinlich würde sie dann auch ihre innere Ruhe wiederfinden. „Tim, Ihre Familie vermisst Sie sehr. Alle wünschen sich, dass Sie nach Hause zurückkehren.“
Tim zuckte die Schultern. „Ich fühle mich ihnen nicht mehr zugehörig, wissen Sie?“
Leider wusste Anne das nur zu gut. Auch sie hatte davon geträumt, von ihrem Vater anerkannt und geliebt zu werden und zu ihm zu gehören. Dieser Traum hatte sich in nichts aufgelöst, und nun erging es ihr wie Tim. Auch sie fühlte sich verloren und wurzellos wie er. „Ewig können Sie sich nicht vor dem Leben verstecken. Sie müssen sich Ihrer Familie stellen und mit Ihren Angehörigen klarkommen. Sie möchten Sie am Vierten Juli dabeihaben. Ich finde, Sie sollten hinfahren.“
Tim steckte die Hände tief in die Hosentaschen der Khakishorts und entgegnete trotzig: „Selbst wenn ich nicht verzeihen kann, was mein Vater getan hat?“
Anne blickte in seine dunklen Augen und suchte nach einer Möglichkeit, ihm zu helfen. Ehrlichkeit schien der beste Weg zu sein. „Was Frank getan hat, war nicht gerade gut. Aber es geschah aus Liebe zu Ihnen. Ja, er hat einen Fehler begangen, versuchte jedoch, ihn wiedergutzumachen. Und das allein ist jetzt wichtig.“
Tim schwieg noch immer bockig.
„Er hat viel aufs Spiel gesetzt, als er Sie nach Amerika brachte“, fuhr Anne eindringlich fort. „Er riskierte seine Familie und seine zukünftige politische Karriere. Das muss Ihnen doch einiges beweisen, Tim. Und Sie haben noch eine Mutter und drei Schwestern, die Sie lieben und vermissen.“
Und ich habe meine Adoptiveltern, die mich lieben, dachte Anne mit einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Reue. Vielleicht ist es Zeit, mit ihnen Frieden zu schließen. Was zählt es schon, dass wir nicht immer übereinstimmen und dass Robert Ryan mich nicht liebt? Carl und Celia tun es auf jeden Fall. Sie sind mir die besten Eltern gewesen, die man sich wünschen kann. Der Streit, den wir wegen meiner Arbeit in der Agentur hatten, darf all das nicht auslöschen.
„Sie haben die Wahl, Tim, ob Sie dazugehören wollen oder nicht“, erklärte Anne hart. „Ihre Familie weist Sie nicht ab. Das tun Sie sich ganz alleine an.“
„Wie geht es mit der Rede voran?“, fragte Gloria. Sie brachte noch eine Kanne frischgebrühten Kaffee in die Bibliothek, in der John sich vergraben hatte.
„Sehr langsam“, antwortete John. Er konnte sich einfach nicht auf die Bedeutung des Unabhängigkeitstages konzentrieren, denn er musste immerzu an Anne denken, die er verloren hatte. Jahrelang war er auf der Suche nach der richtigen Frau gewesen, mit der er sein Leben teilen wollte. Und schon nach wenigen Wochen hatte er sie verloren, weil es ihm nicht gelungen war, sie von seiner Liebe und davon zu überzeugen dazuzugehören.
Anne war in Vietnam und einem anderen Kulturkreis geboren worden und dann nach Amerika gekommen. Sie erinnerte sich noch zu sehr daran, was es bedeutete, in diesem Land Vietnamesin und darum anders zu sein.
Wenn er ihr doch nur klarmachen könnte, dass nicht die Farbe der Haut oder die Form der Augen den Menschen zu einem Amerikaner machten, sondern das, was man in seinem Herzen empfand. Zum Beispiel der Mut, für das einzustehen, was man für richtig hielt, und notfalls dafür zu kämpfen. Es bedeutete, großzügig zu sein und andere Ansichten, fremde Sitten und Kulturen nicht nur zu dulden, sondern zu akzeptieren. Aber vor allem bedeutete es, sich selbst treu zu sein, ganz gleich, wie stark der Druck von nahestehenden Personen oder der öffentlichen Meinung
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