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Bibbeleskaes

Bibbeleskaes

Titel: Bibbeleskaes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Glaser
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hatte ich die Wasserfälle von Allerheiligen geliebt. Rosa war mit mir und Bernhard zwei-, dreimal da gewesen, sie hatte in unserer Familie die Sonntagsausflüge übernommen, weil Martha und Edgar am Wochenende arbeiten mussten. Wir starteten immer oben und liefen mit Begeisterung die vielen Treppen hinunter, neben denen der Lierbach in wildem Getöse in die Tiefe stürzte.
    Den beschwerlichen Rückweg versüßte Rosa uns, indem sie Geschichten erzählte, die sich um die Wasserfälle rankten. Sie beschrieb uns, wie unwegsam das Gelände noch vor hundert Jahren war. Kein Weg, kein Treppchen, kein Steg, nur der wilde Bach, der steile Abgrund und die zerklüfteten Felsen. Und immer, immer lief mir ein Schauer über den Rücken, wenn wir an dem steinernen Bild Station machten. Die Umrisse des Gesichts in der vorspringenden Felswand sahen jedes Mal anders aus, je nachdem, ob und wie die Sonne darauffiel, aber immer wirkte es sehr geheimnisvoll. Rosa erzählte von dem jungen Steinmetz, der das Antlitz seiner Geliebten, einer Zigeunerin, in den Stein gehauen hatte und sich danach in die Tiefe stürzte.
    Â»Was ist ein Antlitz? Wie hat der Steinmetz überhaupt an der steilen Wand arbeiten können? Warum war die Frau Zigeunerin?«, hatte ich als Kind von ihr wissen wollen.
    Â»Mit einem Seil hat er sich festgemacht und es durchgeschnitten, als er mit seinem Bild fertig war«, hatte Rosa erklärt. »Und ›Zigeunerin‹ hat man gern zu einer gesagt, die fremd war oder voller Rätsel.«
    Â»Warum hat die Frau den Mann verlassen? War sie böse?«, insistierte ich.
    Â»Niemand ist böse, weil er geht«, antwortete Rosa. »Vielleicht war sie unglücklich? Vielleicht wollte sie nicht mehr in einer modrigen, feuchten Höhle leben? Vielleicht hat der junge Steinmetz ihr die Luft abgeschnürt? Vielleicht wollte sie frei sein und träumte von Amerika? – Die Liebe, Kind, kann sehr kompliziert sein!«
    Gute alte kluge Rosa! Gerne hatte sie Geschichten mit ihrer Lebensweisheit gewürzt. Ich hatte immer mehr über die verschwundene Frau wissen wollen, wohl ahnend, dass Geheimnisse einen Menschen interessanter machten, als wenn er sich eifrig aufblätterte, aber meinen kleinen Bruder langweilten solche »Weibergeschichten«, er wollte zum Reitersprung.
    Ihm musste Rosa die Geschichte vom wackeren Schweden erzählen, der im Dreißigjährigen Krieg von den Österreichern gejagt wurde und beim verzweifelten Versuch, den Verfolgern zu entkommen, den Sprung über die Lierbach-Schlucht wagte und dabei mit seinem Pferd in die Tiefe stürzte. Ehrenvoll, tapfer, wagemutig. Das Geheimnis, wegen dem er gejagt wurde, nahm er mit in den Tod. Auf solchen Details bestand Bernhard. Aber ob steinernes Bild, Reitersprung oder die anderen Geschichten, die Rosa uns erzählte, alle handelten vom tiefen Fall und eitlen Sturz, vom Zerschellen und Zerschmettern, von Tod und Verderben.
    Spätestens wenn wir die letzte Steigung geschafft hatten, der Lierbach all seine Wildheit verlor und ganz gemächlich neben uns herfloss, vergaßen wir die Schauergeschichten und verhandelten mit Rosa, ob es in der Allerheiligen-Gaststätte ein Wassereis und eine Sinalco oder ein großes Milcheis ohne Sinalco gab. Und wenn das Eis gekauft war und Rosa auf der Terrasse einen Kaffee trank, hüpften wir in den Klosterruinen neben der Gaststätte herum, spielten König und Königin und suchten uns den schönsten steinernen Thron, um dort unser Eis zu lecken.
    Während ich diesen Kindheitserinnerungen nachhing, hatte sich mein Wagen von Unterwasser bis hoch zur Bergkuppe gekämpft. Ich ließ ihn langsam am Parkplatz vorbei in die Mulde rollen, in der die Klosterruine und der Gasthof lagen. Das Licht der Abendsonne brach sich in den Fensterhöhlen und den herausgebrochenen Mauerteilen der alten Klosterkirche, die Tannen und Laubbäume legten ihre schützenden Äste über die Ruinen, und ich dachte mal wieder, dass es die Mönche zu allen Zeiten verstanden hatten, ihre Klöster an den schönsten und stillsten Orten zu bauen.
    Carlo kam aus dem Gasthof gelaufen und freute sich, mich zu sehen. Wir hatten ein paarmal gemeinsam in der Linde gekocht, als Martha mit ihrem gebrochenen Bein darniederlag. Ich sah ihn noch genau vor mir, wie er nach der Arbeit mit seinem Skateboard in Richtung Achern davonrollerte. Das war jetzt bestimmt zehn Jahre

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