Biest: Thriller (German Edition)
müssen dennoch die Wohnung absperren und auf die Spurensicherung warten. Ich danke Ihnen. Bitte postieren Sie jeweils zwei Männer an den Wohnungstüren, ich möchte, dass niemand außer der Spurensicherung die Wohnung betritt. Ich danke Ihnen für Ihre Kooperation.«
Nicht über Funk, sondern in den Gängen hörte sie misstrauisches Gemurmel. Sie konnte es den Männern nicht verdenken, sie hatten beinahe ihren Vorgesetzten verloren. Vielleicht ihren Mentor. Möglicherweise einen guten Freund. Sondereinsatzkräfte galten überall auf der Welt als verschworene Gemeinschaften, Reimers war sicherlich der Patenonkel von mehr als einem Kind aus seiner Truppe. Das waren sie immer. Sie verspürte dennoch keine Reue, ihn in diese Situation gebracht zu haben, was man ihr je nach Standpunkt als Kaltherzigkeit oder als Professionalität auslegen konnte. Hätte sie Gefühle zugelassen in diesem Moment, hätte sich das Blatt gewendet, aber jetzt musste sie so funktionieren, wie es die ECSB von ihr erwartete. Sie zog den Helm vom Kopf und justierte die Brille.
»Eddy, hol bitte Bennett in die Leitung.« Bennett war ihr Experte für Forensik aus London, den sie immer hinzuzog, wenn es galt, einen Tatort zu untersuchen. Zu einem der wichtigsten Einstellungskriterien für Solveighs Job gehörte es, sehr schnell lernen zu können. Als Field Agent war sie gewissermaßen ein Mädchen für alles, das wenig herausragend, aber dafür vieles einigermaßen zufriedenstellend erledigen musste. Zum Glück konnte die ECSB auf ein handverlesenes Team von Experten aus ganz Europa zurückgreifen: beispielsweise Dr. Gladki für Statistik und eben Professor Bennett für Forensik. Ein Urgestein von Scotland Yard und in seiner Kompetenz über jeden Zweifel erhaben. Es knackte in der Leitung, als Eddy den Wissenschaftler dazuschaltete.
»Agent Lang, schön, Sie zu sehen. Oder auch, schön, mal wieder zu sehen, was Sie sehen, um es präzise auszudrücken.«
»Danke, Professor. Wir haben einen Raum nach einer Explosion«, begann sie ohne Umschweife. Bennett neigte zu professoralem Geschwafel, was durchaus amüsant sein konnte. Aber heute? Keine Zeit. »Vermutlich Semtex, dem Geruch nach zu urteilen.«
»Verdammte Sauerei. Okay, benutzen Sie diese neue App, die ich Ihnen geschickt habe.«
Solveigh rief das Programm auf ihrem Telefon auf. Es nutzte die Kamerafunktion ihrer Brille und legte ein digitales Schachbrett aus grünen Linien darüber. So wurde der Raum in kleine einzelne Quadrate unterteilt, sodass sie etwaige Beweise später einem genauen Fundort zuordnen konnte. Gleichzeitig zeichnete die Kamera jede ihrer Bewegungen in hochauflösendem HD-Format auf, das auf Servern bei der ECSB gespeichert wurde. So wurde sichergestellt, dass sie eine Erstbegehung vornehmen konnte, bei der jede noch so kleine Veränderung dokumentiert würde, falls ihr ein Fehler unterlief. Aber sie hatte ohnehin nicht vor, die Explosion selbst oder den unbekannten Toten zu untersuchen, sie wollte nur möglichst schnell das augenfällig Interessante herausfiltern. Als Erstes nahm sie sich die Tapeten vor, die Thomas Eisler bei der Planung offenbar als Pinnwand gedient hatten. Das, was davon übrig war, hing in Fetzen an kleinen bunten Reißzwecken. Neben den Satellitenfotos verschiedener Atomkraftwerke fanden sich Baupläne, Grundrisse und Aufnahmen von Personen. Bei den meisten handelte es sich um Porträts in unbarmherzigem Licht und aus unvorteilhaftem Winkel, frontal fotografiert. Keine Aufnahmen aus Familienalben.
»Eddy, welches ist Neckarwestheim?« Das erste Anschlagsziel. Dort, wo alles begann.
»Das Zweite von rechts«, wurde ihr über den Ohrstöpsel eingeflüstert. Solveigh trat vor die Fotos. Doreen Kaiser war nirgends zu sehen, ebenso wenig Peter Bausch. Dafür einige Männer, deren kantige Gesichtszüge für Solveigh verdächtig nach Militär aussahen. In ihrem Kopf begannen die Thesen zu rotieren. Was, wenn es neben dem Einschleusen des Virus noch einen weiteren Teil von Eislers Plan gegeben hatte, den sie bisher nicht einmal in Erwägung gezogen hatten?
»Eddy, wir müssen herausfinden, was es mit diesen Männern auf sich hat. Identität, Herkunft, Lebenslauf und so weiter.«
Ohne auf eine Bestätigung ihres Kollegen zu warten, widmete sie sich dem Rest des Raumes. Ihr blieb nicht viel Zeit, bis die Kriminaltechnik der Berliner Polizei anrücken würde. Langsam ging sie von Quadrant zu Quadrant und hielt die Augen konzentriert auf den Boden fixiert.
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